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: HELMUT HÖGE über den Anarchistenkongress

„Freiheit herrscht nicht!“ (Erich Fried)

Indem der Anarcho-Kongress über Ostern nicht wie eigentlich geplant in Räumen der Technischen Uni stattfinden durfte, war sozusagen die anarchistische Ausgangsbedingung erfüllt: sich selbst [neu] organisieren. Das geschah dann im New Yorck/Bethanien am Mariannenplatz, wo die meisten Workshops draußen unter Bäumen in der Sonne stattfanden.

Dabei ging es um Kritik an bestimmten Rauschdrogen, an Ersatzgeld-Funktionen und Sexpol-Konzeptionen (wie die von „Fuck for Forest“), aber auch um Neonazis und Holocaustleugner („Who is who“), um laute, stille und vorgetäuschte „Hausbesetzungen“ sowie um eine digitale Solidarwirtschaft („Coop 2.0“) und den Anarchismus in Russland.

Ein altes Sprichwort dort besagt: „Anarchie ist die Mutter der Ordnung“. Hier nennt man die Anarchisten jedoch gerne „Chaoten“. Auf dem Kongress wurden Ansprüche wie „Die Trennung von Experten und Laien aufheben“ formuliert, es wurde die Überwindung von „Natur“ und „Gesellschaft“ sowie von „Fakten“ und „Glauben“ beansprucht; es fielen Worte wie „Hassgefühle“ und „Sich nicht mit jedem identifizieren können“, und jemand erläuterte den Unterschied zwischen „Gegenseitiger Hilfe“ und bloßen Solidaritätsbekundungen. Am Rande wurden dazu weiterführende Bücher verkauft, Kartoffeln geschält und gekocht, und ein „Spülstraßen“-Pfeil wies den Weg zum Selbstabwasch.

Die etwa 200 Teilnehmer kamen aus allen möglichen Gegenden und waren meist sehr jung, während die Workshop-Anbieter nicht selten grauhaarig waren. Die einen wie die anderen trugen vorwiegend schwarze Klamotten, nahmen Sojamilch zum Kaffee und bemühten sich um „politische Korrektheit“. Ein Workshop war dem Anarcho-„Lifestyle“ gewidmet. Das bezog sich jedoch bloß auf die amerikanischen Anarchozellen, die sich „Crimethinc“ nennen. Einige Teilnehmer zogen sich aus, um nackt demonstrieren zu gehen; andere riefen zu einer Hausbesetzung auf. Aber das waren vorzeitige Schwarmbildungen, die nur eine Möglichkeit andeuteten. Die meisten wollten lieber in Gruppen auf dem Rasen sitzen (bleiben) und wenn schon nicht diskutieren, dann wenigstens zuhören.

Viele Anarchisten, die in Berlin leben, hatten es aber offenbar vorgezogen, über Ostern aufs Land zu fahren. Überhaupt war der Kongress eher eine Veranstaltung zur Einführung in den Anarchismus. Und die meisten Anarchisten sind inzwischen in kleinen Gruppen irgendwo eingesickert beziehungsweise in irgendwelche Projekte (bis hin zur Partei „Die Linke“) verstrickt. Die derzeit in Arbeiterstreiks engagierte „Freie Anarchistische Union“ hatte gerade mal einen kleinen Info-Stand abgestellt. Die Mitarbeiter des Anarchotagungshauses „Bakunin-Hütte“ in Thüringen mussten sich um dessen Belegung kümmern. Die bayrischen Anarchos wiederum bereiteten ihre nächste Feldbefreiung vor. Und die Freunde der klassenlosen Gesellschaft tagten in der Uckermark. Die Friedrichshainer Anarchos bespielten ihre eigenen Räume, usw., usw.

So kamen bloß die zusammen, die gerade Bock auf Berlin hatten – und das mit einer Bildungsveranstaltung verknüpfen wollten. Vorbereitet hatte diese die Anarchistische Föderation, die ansonsten das anarchistische Jahrbuch herausgibt und mit dem Anarcho-Laden am Rosenthaler Platz zusammenarbeitet, wo es in der Nachbarschaft noch einige andere einschlägige Treffs gibt.

Am zweiten Tag des Kongresses kontrollierte die Polizei einige schwarzgekleidete junge Menschen am Hintereingang des Bethanien – wohl um sich wenigstens versuchsweise einen Überblick über die Szene zu verschaffen. Aber das ist nicht so einfach. „Der Schlüssel zu anarchistischen Organisationsformen ist möglicherweise die davon ausgehende Lebensqualität“, meinten die Betreiber der „Bibliothek der Freien“ im Haus der Demokratie, die auf dem Kongress einen Workshop zum Thema „Warum ist Anarchismus eine Alternative?“ anboten.

Wenn einem heute laut dem polnischen Theoretiker J. St. Lec selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen werden, dann muss die anarchistische Idee, „dass niemand dein Leben besser bestimmen kann als du selbst“, fast zwangsläufig immer attraktiver werden.