: „Einzelstudien sind vonnöten“
Der Politologe Frank Gesemann hat die Kriminalität junger Zuwanderer untersucht. Die ist seit 1997 um knapp 30 Prozent gesunken. Kriminalität lasse sich nicht allein durch die soziale Lage erklären
Interview Plutonia Plarre
taz: Herr Gesemann, im Auftrag des Migrationsbeauftragten Günter Piening haben Sie eine Studie über Kriminalität von jungen Zuwanderern in Berlin vorgelegt, die brandaktuell ist. Wie lautet das Ergebnis?
Frank Gesemann: Die Gesamtkriminalität von jungen Nichtdeutschen hat sich seit 1997 sehr positiv entwickelt. Seither ist ein deutlicher Rückgang der Delinquenz um knapp 30 Prozent festzustellen. Demgegenüber steht eine Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage – hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildungserfolge, berufliche Perspektivlosigkeit.
So gesehen ist der Rückgang der Kriminalität doch eigentlich verwunderlich.
Richtig. Die Entwicklung zeigt einmal mehr, dass es zu einfach ist, Kriminalität von Zuwanderern nur mit ihrem unterprivilegierten Status zu erklären.
Bezüglich des Anteils nichtdeutscher Tatverdächtiger an der hohen Zahl von Gewaltdelikten kann aber nicht von Entwarnung gesprochen werden?
So ist es. Bei den Rohheitsdelikten in der Altersgruppe 8 bis 21 Jahre sind die Tatverdächtigenbelastungszahlen bei jungen Nichtdeutschen mehr als doppelt so hoch, wie bei jungen Deutschen.
Was sind die Hauptgründe?
Bei der Delinquenz junger Zuwanderer handelt es sich – genauso wie bei Einheimischen – überwiegend um ein jugendtypisches Phänomen, das in dieser Lebensphase in allen sozialen Schichten weit verbreitet ist und sich mit dem Erwachsenwerden wieder gibt. Davon unterschieden werden muss die schwerwiegende und lang andauernde Delinquenz der Intensivtäter.
Die Staatsanwaltschaft führt rund 240 Jugendliche und Heranwachsende als Intensivtäter, 70 bis 80 Prozent seien nichtdeutscher Herkunft, heißt es. Was ist bei diesen Menschen falsch gelaufen?
In Bezug auf Intensivtäter und die konkreten Ursachen gibt es nach wie vor einen erheblichen Forschungsbedarf. Es ist zudem unklar, ob die von Polizei und Staatsanwaltschaft vorgenommene Auswahl von Intensivtätern wissenschaftlichen Ansprüchen genügt oder nur zeigt, wen die Strafverfolgungsbehörden als Problemfall definieren. Die Aussagekraft der von der Staatsanwaltschaft herausgegebenen Daten beschränkt sich auf den Hinweis, dass ein sehr hoher Anteil der Täter einen Migrationshintergrund hat.
Migrationshintergrund kann vieles heißen.
Genau das ist das Problem. Darunter fallen eine Vielzahl von Gruppen, die wenig Gemeinsamkeiten aufweisen: Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge und politische Flüchtlinge, die zweite oder dritte Generation der Arbeitsmigranten sowie Aussiedler und Spätaussiedler. Mit dem undifferenzierten Sammelbegriff „nichtdeutsch“ wird der Eindruck erweckt, die Häufung von Gewaltdelikten sei eine Folge von Migration oder ethnischer Zugehörigkeit.
Über Intensivtäter ist demnach kaum etwas bekannt, obwohl sie ständig Thema in den Medien sind?
Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen Mangel an fundiertem Wissen und öffentlicher Aufmerksamkeit größer. Auch die Staatsanwaltschaft weiß im Grunde genommen wenig. Der zuständige Oberstaatsanwalt Schweitzer stimmt mit mir darin überein, dass Einzelstudien dringend vonnöten sind.
Nach welchen Kriterien müsste man vorgehen?
Es gibt einiges, was junge Zuwanderer an Belastungen mitbringen. Das reicht von der Gewalterfahrung im Herkunftsland über Defizite der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Integration in Deutschland und endet bei schwierigen Familienverhältnissen und einem häufig problematischen Erziehungsverhalten der Eltern. Biografische Analysen und akribisches Aktenstudium wären das Einzige, was uns weiterbringen würde. Bei der begrenzten Anzahl von Jugendlichen dürfte so eine Erhebung kein großes Problem sein. So könnte rekonstruiert werden, wo die Ursachen für die kriminelle Karriere liegen, welche Institutionen versagt oder nicht angemessen reagiert haben, weil sie das Problem zum Beispiel nach dem Motto „das ist im Einwanderermilieu eben so“ kulturalisiert haben.
In Ihrer Studie fordern Sie in einem Zehn-Punkte-Katalog gezielte Präventions- und Interventionsmaßnahmen. Dazu gehört auch die Förderung von Selbsthilfestrukturen in der Einwandererbevölkerung. Warum ist das so wichtig?
Mit sozialen, wirtschaftlichen Veränderungen allein ist es nicht getan. Es geht um mehr. Viele Migrationskinder sind in ihren Familien überdurchschnittlich häufig mit Gewalt konfrontiert. Zahlreiche Studien zeigen, dass dieser Umstand für die eigene Gewaltbereitschaft von großer Bedeutung ist. Es geht um eine kritische Auseinandersetzung mit gewaltfördernden Erziehungsstilen, Männlichkeitskonzepten und Ungleichwertigkeitsvorstellungen in den zugewanderten Familien. Dafür ist es unabdingbar, die Betroffenen über die Einbindung der Migrantenorganisationen mit ins Boot zu holen.