: Gift in der Erde, Schokolade in der Luft
Der hessische Industriestandort Stadtallendorf hat eine bewegte Geschichte: Wo heute türkische Gastarbeiter für Ferrero schuften, schufteten früher jüdische Zwangsarbeiter für die NS-Rüstung. Über deren Bunker haben die Einwohner längst Gras wachsen lassen, sprichwörtlich und buchstäblich
VON CLEMENS NIEDENTHAL
In Stadtallendorf riecht die Luft nach Schokolade. Nach Haselnusstafeln. In Stadtallendorf stehen Schilder am Straßenrand, die auf eine ominöse DAG oder eine obskure Wasag hinweisen. Und auf das Rathaus, den Bahnhof. Oder die Stadthalle. Ein hübsches Millionenprojekt, auf das der Bürgermeister ganz besonders stolz ist. Etwas weiter im Wald warnt ein Schild vor einem „Zwischenlager für TNT-kontaminierten Boden“. An eine Bunkerwand daneben hat jemand den Namen einer Hardrockband gesprüht, die ebenjenen Sprengstoff einmal effektreich besungen hatte: „AC/DC – For those …“ ist dort zu lesen. Bis zum „about to rock“ hat es der unbekannte Sprayer nicht mehr geschafft.
In Stadtallendorf gibt es viele Bunkerwände. Hier standen einmal die größten zusammenhängenden Sprengstofffabriken einer untergegangenen Diktatur. Die Werke der Dynamit-Aktiengesellschaft (DAG) und der Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoff-AG (Wasag). 624 Gebäude, errichtet zwischen 1938 und 1942. Was so nicht ganz richtig ist. Denn beide Sprengstoffwerke lagen im Herrenwald, knappe drei Kilometer östlich des katholischen Weilers Allendorf, gelegen in Oberhessen, Bistum Fulda, unweit der Main-Weser-Bahn. 1.497 Seelen zählte das Dorf noch 1938. Landwirte, Zentrumswähler, kaum Nazis, keine Antifaschisten. Heute leben in Stadtallendorf etwas mehr als 16.000 Menschen. Auch in der gegenwärtigen Krise bleiben dem Ort gut 9.000 Arbeitsplätze in der Industrie. Ein rares Gut in einer Region mit mehr als 15 Prozent Arbeitslosigkeit.
Dazwischen liegen ein Krieg, ein Wirtschaftswunder – und die Metamorphosen eines Ortes, der zweimal seinen Namen ändern sollte: Von Allendorf in Stadt Allendorf in Stadtallendorf. Womit das wohl einmalige Kuriosum geschaffen wurde, die Antipoden Stadt und Dorf in einem Namen zu vereinen. Aber soll man sich an einem Ort mit so einem Widerspruch aufhalten, an dem – und hier sind wir wieder bei den NS-Hinterlassenschaften – die hinterlassenen Bunkerbauten von den Einwohnern mit den Jahren als schmucke Eigenheime angeeignet worden sind, mit aufgesetztem Satteldach und Geranien vor den Fenstern?
Denn Bunkerbauten sind eine Menge übrig geblieben in Stadtallendorf. Ihr Stahlbeton scheint zu halten, was das tausendjährige Reich versprach. Eine Kammgarnspinnerei spinnt noch heute ihre Garne, wo weiland Fliegerbomben gefüllt wurden. Schwer öffnet sich die Stahltür zum fabrikeigenen Lagerverkauf. Noch immer grünt Gestrüpp auf den flachen Betondächern.
Feindliche Flieger werden damit keine mehr getäuscht. Haben sich die alliierten Truppen überhaupt täuschen lassen? Dass die Allendorfer Munitionswerke bis ins Frühjahr 1945 hinein unentdeckt geblieben sein sollen, ist nur eine der vielen Geschichten, die man sich hier erzählt –wenn man nicht lieber Gras über die nationalsozialistischen Wurzeln und deren Bunkerbauten wachsen lässt. Ein weitere dieser Geschichten geht ungefähr so: Das Steinlager – eine geduckte Barackensiedlung, die noch heute so heißt – sei in den ersten Nachkriegsmonaten für die vielen Heimatvertriebenen errichtet worden.
An die Zwangsarbeiterinnen im Lager Münchmühle hingegen erinnert sich hier niemand gerne; an die ungarischen Jüdinnen etwa, die im August 1944 direkt aus Auschwitz in die Allendorfer Munitionswerke verschoben wurden, um Projektile zusammenzuschrauben und Bomben zu schleppen; an den beißenden Gestank, der auch hunderte Meter abseits der Produktionsanlagen in der Luft lag; an eine tödliche Industrie, deren Zaungast man geworden war.
Fritz Brinkmann-Frisch erinnert sich. Und Jochen Blecher. Der eine leitet das „Dokumentations- und Informationszentrum“, ein in den Achtzigerjahren von Studierenden aus dem nahen Marburg und mit später Unterstützung der Gemeinde initiierter Erinnerungsort. Der andere kümmert sich um die handfesten Hinterlassenschaften der Kriegsproduktion.
Der Diplom-Ingenieur hat die Stadtallendorfer zu einer einzigartigen Säuberungsaktion überredet: Seit 1989 wird der mit den Rückständen der Sprengstofffabrikation belastete Boden auf dem Areal des ehemaligen DAG-Werks Kubikmeter für Kubikmeter analysiert, gereinigt und ausgetauscht. Ganze Einfamilienhäuser wurden luftdicht verpackt, künstlich beatmet und von der Baggerschaufel freigelegt. Ein katalysatorischer Akt, der auch zur Geschichtsdialyse taugt – wenngleich Blecher und sein Bürgerbeteiligungsbüro zunächst im Alleingang in einer kollektiv verbuddelten Erinnerung herumstocherten: „Die Menschen hatten fünfundvierzig Jahre auf und mit dem Gift gelebt, die haben zunächst nicht eingesehen, warum die Munitionswerke auf einmal wieder ein Thema sein sollten.“ Nach der Sanierung wird zumindest im Erdreich nichts mehr an die Dynamit-Aktiengesellschaft erinnern. Das alte Allendorf, der katholische Weiler, liegt ein wenig abseits auf der anderen Seite der Bundesstraße 254.
Das neue Stadtallendorf hat seine Existenz einer Geschichte zu verdanken, die man der „jungen Stadt im Grünen“ nicht vorwerfen kann. Dafür aber verpflichtet der Ort zu einer Archäologie deutscher und europäischer Zeitenwenden, die mehr hinterlassen haben als nur kontaminierte Erde.
1956 kam Ferrero in die Stadt. In seinem weltweit größten und einzigen deutschen Werk produziert das Unternehmen Kirschkonfekt, Kinderriegel und die wahrscheinlich längste Praline der Welt.
Mit Ferrero und den anderen Industriebetrieben kamen die Arbeiter, erst aus Italien, später aus Portugal, dem damaligen Jugoslawien und vor allem aus der Türkei. Es kamen erste Einkaufsstraßen und zwei längst wieder geschlossene Kinos. Und es kam, mit der Wiederbewaffnung, die Bundeswehr, die am Standort Stadtallendorf festhalten will.
Die Luft riecht nach Schokolade, überall, auch am Rand der großen Halde. Am Zaun warnen Schilder spielende Kinder vor dem verseuchten Bodenaushub. In türkischer Sprache.