„BILD“ PROKLAMIERT DEUTSCHE OPFERROLLE GEGENÜBER GROSSBRITANNIEN
: Mit der Abrissbirne gegen die Versöhnung

Wunden zwischen Völkern heilen langsam, gegenseitiges Vertrauen braucht Zeit. Demgegenüber scheint es leicht, erneut Gräben aufzureißen. Die Städtepartnerschaft zwischen dem von der deutschen Luftwaffe zerstörten Coventry und dem von alliierten Bombern zerstörten Dresden, das Engagement des englischen „Dresden Trust“ zum Wiederaufbau der Frauenkirche – das sind Schritte für einen solchen langen Versöhnungsprozess.

Jetzt aber, anlässlich des Besuchs der Queen in Deutschland, wird die Abrissbirne in Stellung gebracht. Erst behauptet der britische Daily Mirror, deutsche Politiker hätten gefordert, Elizabeth solle sich „für Dresden“ entschuldigen; eine Erfindung, die leicht zu entkräften war. Damit begnügte sich aber die Bild-Zeitung in ihrer Replik keineswegs. In großer Aufmachung wurde der Yellow-Press-Artikel zum Beweisstück einer giftigen antideutschen Haltung gemacht. Die unterschwellige Botschaft laute: Deutschland soll auf ewig in seiner Täterrolle fixiert werden, dabei sind wir doch selbst Opfer. Damals waren wir Opfer der Luftangriffe, heute sind wir Opfer der britischen Verleumdungskampagne. Opfer zu sein macht wichtig. Es produziert Selbstmitleid und stärkt die brüchige Identität. In Frage steht nicht, wer den Krieg mit welchen Zielen begonnen hat. Worum es geht, ist die Konkurrenz der Opferrollen und der Bonus, den man aus der Opferrolle zieht.

Gehen solche Spekulationen beim deutschen Publikum auf? Gewiss, die Führung der Vertriebenenverbände beharrt weiter auf ihrem Opferstatus. Als zum alliierten Luftkrieg wie zum Schicksal der Vertriebenen in den letzten Jahren Bestseller erschienen, wurde vielerorts der Befürchtung geäußert, in Deutschland vollziehe sich eine Trendwende von der Täter- zur Opferrolle. Solche Befürchtungen sehen das Selbstbild der Völker nur im Kräftefeld von Manipulation und Gegenmanipulation. Sie unterschätzen die Bedeutung beharrlicher „vertrauensbildender Maßnahmen“ zwischen den Völkern. Und sie vergessen: Um die Toten zu trauern heißt nicht unbedingt, sich eine Opferrolle anzumaßen. CHRISTIAN SEMLER