Streit über Minderheiten-Report

Bericht der türkischen Menschenrechtskommission fordert die Anerkennung ethnischer Minderheiten. Das stärke die Republik. Nationalisten sprechen von einer puren Provokation

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

Die Szene hatte einen hohen Symbolwert und brachte das Ausmaß der öffentlichen Erregung auf den Punkt. Gerade als der Vorsitzende der Menschenrechtskommission der Regierung ansetzte, einen Minderheitenreport der Kommission der Presse vorzustellen, nahm ein Mitglied der Kommission das Papier vom Tisch und zerriss es vor aller Öffentlichkeit. Fahrettin Yokus, Vorsitzender des türkischen Beamtenbundes, wollte damit drastisch ausdrücken, was er von dem Report hält. Das Papier sei illegal, weil lediglich von einer Minderheit der Kommission gebilligt. Ibrahim Kaboglu, Vorsitzender der Kommission, sah sich ob des darauf einsetzenden Tumults genötigt, die Pressekonferenz vorzeitig abzubrechen.

Seit der Minderheitenreport vor einigen Tagen bekannt wurde, hat er zu heftigen Debatten in der Öffentlichkeit geführt. Die Autoren einer vom Premier einberufenen Kommission haben es gewagt, an einigen bislang ehernen Grundsätzen des staatlichen Selbstverständnisses zu rütteln.

Seit Gründung der türkischen Republik und dem Friedensvertrag von Lausanne gilt, es gibt in der Türkei nur die nichtmuslimischen Minderheiten der orthodoxen Griechen, Armenier und Juden. Alle anderen sind Türken.

In dem Bericht wird erstmals quasi offiziell festgestellt, dass das Erbe des Osmanischen Reiches aus einem Mosaik unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Sprachen besteht. Das anzuerkennen und jedem das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit einzuräumen, würde die Republik stärken. Bislang aber gilt: Die Behauptung von Differenz gefährdet die Einheit der Nation und möglicherweise auch die territoriale Integrität.

Verstärkt durch den Bürgerkrieg mit der kurdischen PKK in den 90er-Jahren, wird Verweigerung der Anerkennung von Differenz im Gegensatz zu einem homogenen türkischen Staatsvolk vor allem von den Nationalisten wie ein Mantra vorgetragen. Für sie ist der Bericht deshalb eine pure Provokation.

Professor Baskin Oran, unter dessen Federführung der Bericht erstellt wurde, und die Mitglieder der Kommission, die den Bericht unterstützen, setzen auf eine Dynamik der öffentlichen Auseinandersetzung, die auch durch die EU-Debatte entfacht wurde. Während der nationalistische Flügel die Regierung auffordert, den Bericht nicht anzunehmen, sind die Angesprochenen auf Tauchstation gegangen.

Außenminister Gül bestritt, dass es sich bei dem Bericht um ein Regierungsdokument handele, und vermied jede inhaltliche Stellungnahme. Präsident Ahmet Necdet Sezer machte dagegen während der Feierlichkeiten zum 81. Jahrestag der Republik am letzten Freitag keinen Hehl daraus, dass er das Papier für gefährlich hält. In den Medien wird der Bericht breit diskutiert. Schließlich fordern dessen Autoren eine Verfassungsänderung, um die türkische Gesellschaft an die zeitgenössische Zivilisation anzupassen und das pluralistische Modell Europas zu übernehmen.

meinung und diskussion Seite 11