Neue Begegnungen, alte Erinnerungen

Wo der Wille zur großen Form scheitert, ist Platz für Erkundungen im Dokumentarfilm. Deutsche Filme in Hof

VON ANKE LEWEKE

Hof muss sein. Die Bratwürste müssen sein. Und die allabendlichen Exzesse im Hotel Strauß erst recht.

Seit fast vier Jahrzehnten bewegt man sich auf den Hofer Filmtagen im kuscheligen Koordinatendreieck zwischen Kino, Würstchenbude und Wirtschaft. Nur unwillig nimmt der Besucher Abweichungen von dieser Strecke zur Kenntnis. Warum ist das Event-Schaufenster der Apotheke neben dem Festivalbüro in diesem Jahr nicht mehr mit Aspirin und Filmrollen dekoriert? Wieso gibt es im Kino nicht den frisch gebackenen Käsekuchen, sondern abgepackte Stückchen? In Hof darf sich nichts ändern, werden die festen Bezugspunkte und Rituale strengstens beibehalten. Schließlich hat hier sogar der Biss in die Bratwurst etwas Identitätsstiftendes.

Alljährlich versichert sich der deutsche Film in dem Provinzstädtchen seiner Geschichte und seiner Existenz. Wer weiß, welche deutschen Kinogrößen hier im Laufe von 38 Jahren schon geduldig vor der Imbissbude standen? Auch die schicksalsergebenen Trinkgelage unter den vergilbten Stickbildchen und Rehgeweihen in der Gaststube des Hotel Strauß sind zunächst einmal ein Akt der Selbstbestätigung – immer wieder entsteht vor dem bier- und schnapsgetrübten inneren Auge eine anekdotische Privatarchäologie der Branche. Wie hat sich Fassbinder hier danebenbenommen? Gegen welche Wand hat ein Großkritiker der Siebzigerjahre aus schierer Begeisterung über einen Film eine Flasche Frankenwein geworfen?

Angesichts einer solchen Tradition, die alle Produkte des mehr oder weniger jungen deutschen Gegenwartskinos alljährlich mit fröhlicher Nachsicht absorbiert, mag man es kaum sagen: Der diesjährige Eröffnungsfilm lief der Gründungsidee der Hofer Filmtage zuwider. Aufbrausende Temperamente sprachen sogar von einem Verrat am Festivalgeist.

Denn als sich Mitte der Sechzigerjahre im großen München niemand für ihre merkwürdigen Experimentalfilme und politischen Statements zum Kino interessierte, kamen die jungen Regisseure in der oberfränkischen Provinz zusammen. Hier fanden sie für ein paar Tage Obdach, ein Kino und ihr „Home of Films“ (Wim Wenders). Tatsächlich ist Hof neben Oberhausen die zweite Geburtsstadt des Neuen deutschen Films.

Nun sollte man die in Hof liebevoll gepflegten Pflänzchen der deutschen Filmhochschulen nicht immerzu nostalgisch mit den wilden Pionierjahren abgleichen. Aber müsste ein Regisseur wie Dennis Gansel, der einen Film namens „Napola – Elite für den Führer“ dreht (schon der Titel hat eine gewisse politische Obszönität), nicht ein bisschen Ahnung von den Gedanken und ästhetischen Auseinandersetzungen des Neuen Deutschen Films haben? Von seinem Kampf gegen das Schweigen der Väter, gegen die Verdrängungen des Heimatkinos der Fünfziger? Vielleicht ist es anmaßend, so etwas zu fordern, aber in Hof, wo die Polittradition im Gründungsmythos steckt, kann einem zumindest der Gedanke kommen.

Natürlich ist es Dennis Gansels gutes Recht, seinen Nazi-Film aus der Perspektive eines siebzehnjährigen Berliner Arbeiterjungen zu erzählen, der die Aufnahme in die nationalpolitische Erziehungsanstalt Allenstein als großes Glück und Ehre sieht. Boxtraining statt Fabrikarbeit. Warum sollte Gansel nicht das Staunen, den Stolz, die großen Augen seines Helden Friedrich zeigen, wenn der die Schule zum ersten Mal erkundet? Doch spätestens wenn im gigantischen Speisesaal das üppige Essen die Großaufnahme füllt und Friedrich genüsslich darüber herfällt, fühlt man sich an Harry Potters ersten Tag in Hogwart erinnert. Der Wille zur großen Form geht in „Napola – Elite für den Führer“ mit einer unfassbaren Naivität einher. Dieser Film nimmt den unschuldigen Blick des Helden auf, ohne jede Distanz und ohne ein Bewusstsein dieser Unschuld zu vermitteln.

Kunstvoll werden hier nationalsozialistische Rassenlehren, Darwins Theorien und körperliche Ertüchtigungen ineinander geblendet. Die Kamera ergötzt sich an Uniformen; in Reih und Glied antretende Körper werden mit musikalischem Bombast unterlegt. Dass hier eine gewaltige Maschine am Werk ist, die sich ihre Jugend zurecht züchtet, wird zwar erwähnt, aber an keiner Stelle filmisch transparent. Die konkrete Fanatisierung bleibt Sache des Abspanns.

Welche seltsame Sehnsucht nach bundesrepublikanischer Normalisierung drängt da auf die Leinwand? Wenn ein Film wie „Der Untergang“ alles daran setzt, Hitler „nur nicht vorzuverurteilen“, wenn sich Gerhard Schröder über die Köpfe der Zwangsarbeiter hinweg mit dem Kunstsammler Friedrich Christian Flick versöhnt, dann ist wohl auch nichts dabei, dass „Napola – Elite für den Führer“ im historienfreiem Raum spielt und das Dritte Reich nur mehr den fernen Hintergrund für gepflegtes Emotionskino, Vater-Sohn-Konflikte, Konkurrenzkämpfe und Boxerträume abgibt.

Dabei steht Hof doch gerade nicht für deutschen Großproduktionsbombast. Die großen Gefühle entwickelns sich auf diesem Festival zumeist in völlig unvermuteten Ecken und in aller Beiläufigkeit. In der kleinsten Einheit der Hofer Filmtage, dem Studentenkurzfilm, stellten sie sich ganz vehement ein. Nachdem man Bettina Thimms zwanzigminütigem Film „Herr Zhu“ über einen chinesischen Koch aus Wien gesehen hat, wird man das Essen beim Chinesen um die Ecke zumindest für eine Weile mit anderen Augen sehen. Dieses kleine, großartige Werk vermittelte eine Ahnung von den Einwanderexistenzen, die in winzigen Küchen schwitzen und mit kleinen Messern aus Rettichen dämonische Drachen als Dekoration schnitzen. Weil er am Tag 16 Stunden kocht, hat Herr Zhu keine Zeit deutsch zu lernen. Früher musste er so viel arbeiten, um Frau und Tochter nachzuholen. Jetzt spart man fürs Studium der Tochter und auf eine Reise in die Heimat, um die Verwandten zu besuchen.

Aus dem Ineinandergreifen von Schneiden, Schnitzen, Garnieren, Würzen, Brutzeln und Marinieren kommt Thimms Film einem Leben nahe, dass sich zwischen Herd, Spüle und dem kurzen Nickerchen am Restauranttisch bewegt. Nur einmal in der Woche, am Sonntag, gibt es für das Ehepaar Zhu Zeit, um zum Tee am Nachmittag nach Hause zu fahren. Dann sitzen die beiden auf ihrem mit Plastik überzogenen Sofa und schauen in die Leere des unbewohnten Wohnzimmers. Herr und Frau Zhu, zwei Menschen, die kaum mehr wissen, was sie in ihrer freien Zeit machen sollen, waren das rührendste Bild der Hofer Filmtage. Ohnehin waren es in dieser Festivalausgabe der eher schwachen Fiktionalisierungen und Spielfilmfiguren die Dokumentarfilme, denen es gelang, ganz persönliche Geschichten zu Entdeckungsreisen in andere Welten und Zeiten zu unternehmen, auf die sie den Zuschauer ganz diskret mitnahmen.

Tamara Wyss wiederholt in „Die chinesischen Schuhe“ eine Flußfahrt, die ihre Diplomaten-Großeltern vor über 80 Jahren durch die „Drei Schluchten“ des Jangtse unternahmen. In diesem Film, der sich dem majestätisch-gemächlichen Rhythmus des Flusses anpasst, werden unablässig verschiedene Zeitebenen verschränkt. Die Tagebücher der Großeltern, gestochen scharfe Schwarzweiß-Fotographien, ruhige Kamerafahrten durch unwirkliche Metropolen, die in atemberaubendem Tempo am Rande des Ufers entstehen, ergeben das Bild einer Welt, die damals wie heute aus Schwerstarbeit besteht. Bald wird der Jangste für den größten Staudamm aller Zeiten überflutet sein, ganze Dörfer und Städte wurden bereits zwangsumgesiedelt. Ein alter Mann freut sich über die Qualität der neuen Wohnung, doch beklagt er sich über die Ferne des Marktes, längst könne er nicht mehr den Wok aufs Feuer stellen und dann schnell noch sein Gemüse einkaufen – so beiläufig kann man von verschwindenden Welten, neuen Ökonomien und gewaltigen Umbrüchen erzählen.

Auch in Sibylle Tiedemanns „Estland mon amour“ geht es um Umwälzungen und die Veränderungen eines Landes, ohne dass sie groß benannt werden müßten. Vielmehr ist dieser Film aus einer Trauerarbeit heraus entstanden. Vor sechs Jahren kam Tiedemanns älterer Bruder Klaus unter ungeklärten Umständen in Estland ums Leben. Jetzt möchte die Regisseurin das Land kennenlernen, in das es ihren Bruder Klaus zog, als er vor gut einem Jahrzehnt seine bürgerliche Existenz in Deutschland hinter sich ließ. Der Abschied vom Bruder geht in „Estland mon Amour“ mit der Entdeckung eines Landes einher, dass gerade wieder zu sich selbst findet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beginnt man allmählich wieder die eigene Sprache zu sprechen, ist man auf der Suche nach einem eigenen Rhythmus im Leben. Neue Begegnungen und alte Erinnerungen, Kindheitsfotos und die offene Himmel Estlands verbinden sich zum Porträt eines Landes, zu einem elegischen Film über Schönheit, Vergänglichkeit und den Schmerz des Verschwindens.

Vielleicht ist auch Hof ein alljährlicher Kurzfilm, der alte und neue Bilder mischt, aus dem Off Anekdoten einblendet und die Hauptrollen jedes Jahr ein wenig anders verteilt. Ein deutscher Bier- und Bilderrausch, ein Erinnerungsraum des heimischen Kinos, eine Gastwirtschaft, in der die Branche zielstrebig auf den Filmriss hinarbeitet und dabei doch gerade zu sich findet.

Also trinken wir weiter. Und so lange die umsichtige Restaurantleiterin des Hotel Strauss mit der sorgfältig gebügelten Schürze den Überblick über die unzähligen Biere nicht verliert und der galante Nachtpförtner Herr Schulz dann doch noch en détail die Geschichte vom Rauswurf Fassbinders an die nächste Filmgeneration weitergibt (Fassbinder hat die Mutter der Hotelchefin als Puffmutter bezeichnet), hat der Mythos Hof gute Chancen, am Leben zu bleiben.