: Der laute und der leise Frust
Personalfragen sind Machtfragen. Klar, die alte Geschichte. Aber in der Sozialdemokratischen Partei sind Personalfragen derzeit Ohnmachtsfragen
AUS BOCHUM JENS KÖNIG
Wolfgang Clement und Olaf Scholz werden das möglicherweise anders sehen. Der Bochumer Parteitag hat die beiden am Montagabend abgestraft, und zwar mit aller Macht – jedenfalls mit so viel Macht, wie er gerade eben noch hat. 56,7 Prozent hat Clement für seine Wiederwahl als stellvertretender SPD-Vorsitzender erhalten, sogar nur 52,5 Prozent waren es für Scholz als Generalsekretär.
Ganze sechs Stimmen weniger, und Scholz hätte in einen zweiten Wahlgang gemusst – mit unkalkulierbaren Folgen für ihn, aber auch für den Kanzler und Parteivorsitzenden. Angeblich standen die Nordrhein-Westfalen für diesen Fall bereit, ihren Landesvorsitzenden Harald Schartau als Gegenkandidaten ins Rennen zu schicken.
Aber Schröder beschädigen? Das wäre das Letzte gewesen, was die Mehrheit der Delegierten gewollt hätte. Die Partei hat keinen anderen Schröder. So gesehen steckt in den katastrophalen Ergebnissen für Clement und Scholz sogar noch der Wille zum Augenmaß, der sich quasi hinter dem Rücken der Genossen durchgesetzt zu haben scheint. Ihr begrenztes Frustpotenzial haben die Delegierten also fast optimal ausgereizt.
Weil die Agenda 2010 jedoch felsenfest steht und die süßen sozialdemokratischen Bonbons für die ausgehungerte Basis (Erbschaftsteuer, Lehrstellenabgabe) in den Gremien schon glatt gelutscht worden sind, haben die Genossen ihren Ärger über das Große und Ganze in der Partei ganz einfach an Clement und Scholz ausgelassen. Den Mut, den beiden in der Generaldebatte offen die Meinung zu geigen, fand kein einziger (!) Delegierter.
In Bezug auf Clement ist die Frustlage eindeutig. Der Wirtschaftsminister ist von seiner SPD meistens genervt, weil ihm bei ihr vieles immer noch zu langsam geht, und er ist schon gar nicht bereit, symbolische Maßnahmen wie die Ausbildungsplatzabgabe richtig zu finden, nur weil die Mehrheit der Partei sie will.
Bei Olaf Scholz ist die Lage etwas komplizierter. Dem Generalsekretär wird zu Recht vorgeworfen, dass unter seiner Führung das Willy-Brandt-Haus zu einem Sprechzentrum zur Verkündung von Schröder-Politik degradiert worden ist. Hinzu kommen eine verunglückte Eröffnung der Programmdebatte („Der Begriff ‚demokratischer Sozialismus‘ ist ein Sprechfehler“) und sein Temperament einer ecuadorianischen Riesenschildkröte. Aber nur für seinen Mangel an emotionaler Intelligenz ist Scholz allein verantwortlich. Ansonsten ist er der Diener seines Herrn Gerhard Schröder.
Der durchschnittliche Parteitagsdelegierte löst dieses Dilemma auf sozialdemokratische Art: Der SPD-Vorsitzende wird mit einem in Anbetracht der Umstände guten Ergebnis (80,8 Prozent) wiedergewählt. Dessen Generalsekretär wiederum, der die Politik verteidigt, die ein SPD-Parteitag vor sechs Monaten abgesegnet hat, wird fast in die Wüste geschickt. Fortgesetzt wird dieser Schizo-Trip, wenn ausgerechnet die beiden Linken in der SPD-Führung, Wolfgang Thierse und Heidemarie Wieczorek-Zeul, mit den besten Ergebnissen zu stellvertretenden Parteivorsitzenden wiedergewählt werden. Sowohl Bundestagspräsident Thierse (90 Prozent) als auch Wieczorek-Zeul (84,6 Prozent) haben die Agenda 2010 eher mit kritischen Kommentaren begleitet als mit kämpferischen Reden durchgesetzt. Der Kanzler nannte dieses Abstimmungsverhalten seiner Genossen gestern dann auch völlig berechtigt eine „kollektive Unvernunft“.
Manchmal hingegen sind Personalfragen weder Macht- noch Ohnmachtsfragen, sondern Angelegenheiten des Proporzes. Die Wahl des 45-köpfigen Parteivorstands über die engere SPD-Führung hinaus ist der Ausschluss des Zufalls mittels akribisch arbeitender Kungelrunden der verschiedenen Parteiflügel im Vorfeld. Da kursieren Vorschlagslisten der „parlamentarischen Linken“, der rechten „Seeheimer“ und der jungen „Netzwerker“, auf denen die Namen derjenigen stehen, die in den Vorstand gewählt werden sollen, aber auch Namen von denen, die der jeweilige Flügel unterstützt, obwohl sie ihm nicht angehören.
Da ist es also durchaus das gezielte Ergebnis einer gegenseitigen Absprache, dass die Parteilinken Niels Annen, Andrea Nahles, Ottmar Schreiner, Hermann Scheer und Ludwig Stiegler in den Vorstand gewählt worden sind, die Parteilinke Sigrid Skarpelis-Sperk aber wegen ihrer Unberechenbarkeit und ihres Nervfaktors auf der Strecke bleibt. Skarpelis-Sperk scheiterte sogar im zweiten Wahlgang mit dem viertschlechtesten aller Ergebnisse.
Ein bisschen jünger sollte der Vorstand insgesamt werden (Symbol: Juso-Chef Niels Annen) und ein bisschen weiblicher (Symbol: die Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann). So ist es jetzt auch gekommen. Fast ohne Frustablassen.