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Archiv-Artikel

Ohio ist doch nicht Florida

Trotz einiger technischer Probleme wiederholte sich die Chaos-Auszählung vom November 2000 nicht

WASHINGTON taz ■ „Ich kann nicht glauben, dass dies wieder passiert“, rief eine TV-Kommentatorin verständnislos in die Kameras. Die Bundesstaaten Ohio und Iowa waren zu diesem Zeitpunkt der Stimmenauszählung „to close to call“ – „zu eng, um eine Aussage zu machen“. Es war ein Dejá-vù-Erlebnis vom November 2000, auch wenn es deutliche Unterschiede zu Florida gibt, ein zermürbender Rechtsstreit und nervenaufreibender Auszählungsmarathon sich gegenwärtig nicht abzeichnen.

Zunächst die gute Nachricht: Die dunkelsten Vorhersagen von einer „Wahl-Apokalypse“ sind nicht eingetroffen. Zwar riefen am Wahltag tausende bei Notruf-Telefonen von Bürgerrechtsgruppen an und beschwerten sich über kleinere Probleme. Ein Heer von Anwälten und tiefes Misstrauen auf beiden Seiten versprachen überdies eine juristische Schlacht. Auch begleiteten Kontroversen über Aktivisten der Republikaner den Wahlauftakt, die Unterlagen von vermeintlich nicht stimmberechtigten Wählern überprüfen sollten. Sie kamen jedoch kaum zum Einsatz.

Von schwerwiegenden technischen Problemen und Wähler-Diskriminierung wurde bislang nichts berichtet. Das befürchtetes Chaos sei ausgeblieben, betonte Doug Chapin, Direktor der unabhängigen Beobachtergruppe „Election Reform Information Project“. Trotzdem stand am Tag nach der Wahl der endgültige Sieger noch nicht fest. In drei Bundesstaaten – Ohio, Iowa und New Mexico – verzögerte sich die Auszählung. In Ohio lag Bush nach Auszählung von 98 Prozent der Wahlbezirke mit rund 137.000 Stimmen vorn. Dabei waren allerdings 175.000 so genannte provisorische Stimmen nicht mit eingerechnet. Diese ermöglichen all jenen Bürgern die Stimmabgabe, deren Wahlrecht am Wahltag nicht geklärt ist. Dazu gehören Leute, deren Name nicht in der Wahlliste steht. Nach dem Wahlgesetz von Ohio können diese Stimmen erst nach einer Überprüfung der Wählerlisten in elf Tagen ausgezählt werden.

In Iowa wurde die Auszählung der Stimmen unterbrochen. Die Entscheidung fiel, nachdem mehrere Wahlcomputer ausgefallen waren und sich die Öffnung von Briefwahlunterlagen verzögerte. Wann feststeht, ob Präsident Bush oder John Kerry die sieben Wahlmännerstimmen des Staates erhalten, ist unklar.

Die anfängliche Reaktion der Demokraten, eine Auszählung der provisorischen Stimmen in Ohio abzuwarten, bevor Kerry seine Niederlage einräumt, entsprach den Erwartungen, dass beide Lager um jede Stimme kämpfen werden, sollte der Ausgang auf ein Patt zusteuern. Aber es dürfte nicht nur ein taktischer Grund sein, der die Demokraten abwarten ließ. Vizepräsidentschaftskandidat John Edwards rief noch in der Wahlnacht: „Wir haben vier Jahre gewartet, und wir können noch eine weitere Nacht warten“, und fügte hinzu: „John Kerry und ich haben versprochen, dass jede Stimme zählt und jede Stimme gezählt wird.“ Offenbar fühlten sie sich ihren Wählern – insbesondere den Schwarzen und Latinos – verpflichtet.

Weil Bush in Ohio jedoch so deutlich führt, es aber nur rund 175.000 provisorische Stimmen gibt, hat Kerry frühzeitig eingelenkt und die Niederlage eingestanden. Nimmt man Bushs landesweiten Vorsprung von mehr als 3 Millionen Stimmen, ergab sich für Kerry eine völlig andere Situation als für Al Gore vor vier Jahren. Damals hing der Wahlausgang an wenigen hundert Stimmen. Auch deswegen dürfte sich John Kerry rascher als erwartet entschieden haben, George Bush zum Wahlsieg zu gratulieren.

Insgesamt könnte der von schwerwiegenden Pannen bislang freie Urnengang das Vertrauen der Bürger in das Wahlsystem zurückgewinnen helfen. Nach einer Umfrage des Time Magazin glaubten 48 Prozent der Amerikaner vor der Wahl, dass sich ein illegitimer Gewinner durchsetzen werde, und 56 Prozent der Bevölkerung befürworteten eine Abschaffung des Wahlmännersystems. Diesbezügliche Anstrengungen haben am Mittwoch einen Rückschlag erlitten. In Colorado erhielt eine Gesetzesinitiative, die neun Wahlmännerstimmen des Staates in Zukunft nach Stimmenproporz aufzuteilen, keine Mehrheit. MICHAEL STRECK