„Alle kannten die Probleme“

Der Asylbewerber Abdoulaye Ly hatte Depressionen, Angst und Selbstmordgedanken. Am 3. November sprang er aus dem Fenster. Sieben Tage später starb der Afrikaner – der nie einen Psychiater sah. Obwohl Fachleute seinen Namen kannten

bremen taz ■ Die Landsleute haben Geld gesammelt und die ehemaligen Klassenkameraden an der Schule Reiher Straße auch – für die Beerdigung von Abdoulaye Ly (Foto). Der Selbstmord des Bremer Asylbewerbers vor wenigen Wochen hat bei ihnen Schrecken ausgelöst, Nachdenklichkeit – und bei manchen auch Wut.

„Dieser junge Mann wollte etwas aus seinem Leben machen“, sagt Viraj Mendis vom Internationalen Menschenrechtsverein. „Dafür hat er alles auf sich genommen und ist aus Afrika hierher gekommen. Aber als er hier krank wurde, bekam er keine Hilfe. Deshalb ist er aus dem Fenster gesprungen.“ Die medizinische Versorgung von Asylbewerbern wie Ly werde ständig eingeschränkt. Wer psychisch in Not gerate, habe es ungeheuer schwer. „Die weniger Robusten machen dann Schluss.“

Im Fall von Abdoulaye Ly hat Mendis wohl Recht – obwohl SozialarbeiterInnen in der Gröpeliner Flüchtlingsunterkunft im Schwarzen Weg sich um den jungen Westafrikaner kümmerten. Obwohl er im Oktober einen Termin beim Sozialpsychiatrischen Zentrum West hatte. Und obwohl er bei der Psychosozialen Anlaufstelle für Flüchtlinge, Refugio, bekannt war und auf der Warteliste für Therapie stand.

„Flüchtlinge in seelischer Not werden von unserem Netz nicht wirklich getragen“, sagt Zahra Mohammadzadeh aus dem Bremer Gesundheitsamt. Überall gebe es Hürden. Eigens zu diesem Thema hatte nur eine Woche vor Lys Selbstmord eine Gruppe Verantwortlicher getagt – um die Versorgung von rund 20 gefährdeten Flüchtlingen zu verbessern. Auch Lys Name war gefallen. Vier Tage später, am 3. November, sprang der Mittzwanziger aus dem dritten Stock des Gröpelinger Wohnheims. Nach sieben Tage erlag er seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus Sankt-Jürgen-Straße. Mittlerweile ist die gerichtsmedizinische Obduktion seiner Leiche abgeschlossen. „Keine Auffälligkeiten“, lautet der Befund.

Weil keine Verwandten bekannt sind, wollen Freunde den jungen Muslim in Bremen beisetzen. „Wir können nicht einmal jemanden benachrichtigen“, sagt Heike Wewer. „Es ist schrecklich.“ Die Sozialarbeiterin kannte Ly, seit er im Juli ins DRK-Heim für Flüchtlinge gezogen war. Sie sagt: „Alle mochten ihn. Er war aufgeschlossen, liebenswert und humorvoll.“ Bis zum 10. Oktober. „Da kam er, hatte Angst und sprach zum ersten Mal davon, sich umbringen zu wollen.“ Sie organisierte einen Termin für ihn bei Sozialpsychiatrischen Zentrum West. Danach sei es Ly etwas besser gegangen. Auch habe es geheißen: „Er hat keine Psychose“.

Die Bremerin Evelyn Parris kann sich darüber nur wundern. „Ich habe immer gesagt, unsereiner wäre schon lange in der Klinik“, sagt sie. Es sei doch nicht normal, wenn einer plötzlich von sich nur in der dritten Person rede und glaube, alle wollten ihm schaden. „Sogar wenn er nachts nach Alpträumen aufgewacht ist, sah er Leute um sich rum.“ Parris hatte Ly zur sozialpsychiatrischen Beratung begleitet. „Aber die Frau hat nur mit mir geredet. Keine halbe Stunde“, sagt sie. „Vielleicht 20 Minuten.“ Dann habe es geheißen: „Keine Psychose.“ Auch Medikamente habe der junge Mann nicht bekommen – der in ihr seine Vertraute sah. Die 51-jährige hatte schon erwogen, ihn zu adoptieren. Ganze Wochen verbrachte er bei ihr auf dem Sofa, während er im Heim auf eines der raren Einzelzimmer wartete. „Raus ging er kaum noch. Er hatte ja Angst vor Schwarzen und Weißen“, sagt Parris. Am Tattag hatte sie ihn ermuntert, ins Heim und wieder in die Schule zu gehen. Im Glauben, Abwechslung täte dem Mann gut. Kurz darauf sprang er. „Wenn ich gesagt hätte, er soll bleiben, würde er vielleicht noch leben“, sagt Parris traurig.

„Der Fall wird noch untersucht“, sagt Peter Kruckenberg. Als Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung des ZKH Ost ist er verantwortlich für die Beratungsstelle West. Die Mitarbeiterin, die an Ly im Oktober keine Anzeichen einer Psychose erkannte, sei eine erfahrene Psychiatriekrankenschwester. Sie habe damals keinen Arzt gerufen, wohl aber nachträglich den Fall mit einem Vorgesetzten besprochen.

Die Bremer Grünen haben dem Todesfall Ly eine Anfrage in der Fragestunde des Parlaments kommende Woche gewidmet. Sie fordern Aufklärung, ob die psychischen Probleme des Asylbewerbers bekannt waren. „Alle kannten die Probleme“, wundert sich Evelyn Parris. E. Rhode