: Der Mond der Macht
Gibt es für Politiker ein Leben jenseits der Politik? Und für politische Journalisten? Der Reporter Jürgen Leinemann zieht beeindruckend Bilanz
VON JÜRGEN BUSCHE
Dieses Buch lässt an einen Lego-Baukasten denken – mit einem perfekten Lego-Haus dazu. Jürgen Leinemann schildert mit der ganzen Kunst, die ihn als Reporter berühmt gemacht hat, seinen Weg als Journalist durch vier Jahrzehnte. Verkürzt zusammengefasst: Berlin, Washington, Bonn, Berlin. Das liest man fast mit angehaltenem Atem. Nicht weniger faszinierend aber ist das Buch, das man zugleich mitliest. Hier werden die Versatzstücke journalistischer Weisheit in einer Häufung präsentiert, die gute Autoren sonst vermeiden.
Journalisten sind es gewohnt, mitzuschreiben, sich auffallende Sätze zu notieren, die Texte anderer sorgfältig durchzusehen und eventuell daraus zu exzerpieren. All das hat Leinemann stets mit Bienenfleiß getan. Auch deshalb ist sein jüngstes Buch so lang geworden.
Lang – aber nie langweilig. Leinemann hat viel zu erzählen. Kaum ein Journalist hat so viele Politiker aus solcher Nähe, aber auch in ihrer beruflichen Umgebung kennen gelernt wie er. Unübersehbar ist, dass ihm Sozialdemokraten sympathischer sind als Leute von der Union. Aber das wirkt kaum störend, weil die schiere Menge der beobachteten Figuren dazu führt, dass man solch schlichte, aber stets präsente Unterscheidung bald überliest. Stärker wirkt das Einteilungsverfahren nach Generationszugehörigkeit. Hier gelingt dem Reporter ein Stück origineller Historie zur politischen Geschichte Deutschlands. Das könnte, versteht man den Buchtitel als Programm, nicht ganz in seinem Sinne gewesen sein, denn recht früh schon schreibt er, dass sich „auf Dauer selbst zwischen einem Joschka Fischer und einem Hans-Dietrich Genscher die prägenden Kräfte des Politikerberufs und die Verbindlichkeit demokratischer Spielregeln als stärker“ erwiesen hätten: stärker als das Trennende zwischen den Generationen, das nicht nur 1968 zu Konflikten führte.
Im Mai 1968 hatte ich in Washington angefangen“, lautet ein lakonischer Satz aus dem autobiografischen Subtext dieses Buches. Da hatte der Schreiber schon einige erfolgreiche Berufsjahre hinter sich. Gleichwohl rechnet sich Leinemann zu den Achtundsechzigern, deren Revolte ja nicht ohne Grund als Studentenbewegung oder außerparlamentarische Opposition – vulgo: Demos auf der Straße, Krawall in den Sälen – bezeichnet wird. Diese Verwischung der Grenze zwischen der Kriegskindergeneration und den Achtundsechzigern, die durchweg zu spät geboren waren, um vom Krieg noch bewusste, im Gedächtnis bleibende Eindrücke zu haben, jener Generation also, die Mitte der Sechzigerjahre auf die Universitäten zog, als Leinemann und seine Freunde sie schon verlassen hatten, ist bei linken Autoren fast üblich. Das kommt daher, dass die Ideen vieler Achtundsechziger durchaus von diesen älteren Köpfen kamen, die freilich zu ihrer Zeit nicht die Zukunftssicherheit und die Härte hatten, sie auch mit unkonventionellen Mitteln in einer breiten Öffentlichkeit durchzusetzen.
Dass die Revolte von 1968 dies vermochte, trug ihr die Bewunderung der Älteren ein. Dass die meisten und die Besten von ihnen sich von den Ideen im Weiteren zu lösen wussten und heute agieren, als hätten sie nie etwas damit zu tun gehabt, ist eine andere Geschichte.
Für Leinemann ist diese andere Geschichte die vom Höhenrausch und von der wirklichkeitsleeren Welt der Politiker. „Seit vierzig Jahren“, schreibt er, „beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sie verändert.“ Niemand, der die Porträts dieses Buches gelesen hat, wird das Bild, das er sich von dem ein oder anderen gemacht hatte, ganz und gar in den Zügen bewahren, mit denen ihm dieser zuvor bekannt gewesen war.
Die Frage stellt sich dann aber doch, ob allein die Profession des Politikers zu solcher Deformation geführt hat. Wenn die Welt des Politikers wirklichkeitsleer geworden ist, wie verhält es sich mit der Welt des Journalisten, der die Politiker umkreist wie der Erdtrabant den Blauen Planeten? Was weiß der Mann im Mond?
„Wirklichkeitsabbildungen“, weiß Leinemann, können „oft sehr irreführend sein, weil sich nicht immer ganz einfach herausfinden lässt, was die Wirklichkeit ist.“ Wohl wahr – aber auch ein weites Feld. Näherhin sollte von Interesse sein, ob Leinemann weiß, dass der Politiker weiß, dass der Spiegel-Reporter ihn jetzt wochenlang, monatelang beobachtet? Und ob dem Reporter klar ist, dass solche Dauerbeobachtung das Objekt verändert? Überlegungen dieser Art beschäftigen Leinemann durchaus nicht. Dabei gibt es ja Alternativen.
Man kann zum Beispiel im Wahlkampf eine mittelgroße Stadt aufsuchen, sich zehn Tage mittags durch die Restaurants der Rechtsanwälte und höheren Verwaltungsbeamten essen, abends in den diversen Kneipen mit allen möglichen Leuten trinken, zwischendurch überall herumlungern und die Politiker auf sich zukommen lassen, wie der Organisationsplan der Parteien sie in den Ort spült. Da beklagen sich dann freilich manche Politiker darüber und sprechen von Wallraff-Methoden. Freunde gewinnt man so selten. Aber von den Beziehungen der Politiker zur Wirklichkeit erfährt man eine ganze Menge.
Leinemann hat ein gutes und spannendes Buch geschrieben. Darum soll man jetzt auch nicht meckern. Aber die Nähe zu Politikern, die er in diesem Buch offenbart, ist keineswegs berufsnotwendig, wenn auch der Erfolg, den Leinemann in seinem Beruf hat, dagegen spricht. Es gibt auch für politische Journalisten ein Leben fern der Politik.
Jürgen Leinemann: „Höhenrausch – Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“. Karl Blessing Verlag, München 2004, 491 Seiten, 20 Euro