piwik no script img

Archiv-Artikel

Zurück zum Wesentlichen

Die Urmutter aller Liebesgeschichten: Květa Legátovás wuchtig- sparsamer und ungewöhnlicher Roman „Der Mann aus Želary“

Es gibt dieses besondere, seltene Gefühl, das sich nach der Lektüre eines guten Romans einstellen kann. Nach der letzten Seite läuft man noch ein Weile orientierungslos umher, den Kopf so komisch durchgedreht vom Gelesenen, dass die reale Welt irreal und lächerlich trivial erscheint. Meist vermögen dies richtig dicke Bücher, fantastisch-epische Wälzer. Ein dünnes Buch aber schafft dieses Kunststück nur selten. Warum eigentlich? Ist die miteinander verbrachte Zeitspanne zu kurz, um eine tiefere mentale Bindung herzustellen? Oder liegt es daran, dass es so wenig Autoren und Autorinnen gibt, die in der Lage sind, auch auf weniger als vierhundert Seiten Literatur herzustellen?

Wenn der Vergleich nicht so absurd wäre, könnte man Květa Legátová als weiblichen Hemingway bezeichnen, so absolut meisterlich beherrscht sie die Kunst der literarischen Verknappung. „Der Mann aus Želary“ ist von der Länge her eher Novelle als Roman, doch er trifft den arglosen Leser mit Wucht. Man merkt es nicht gleich, fast allzu unauffällig ist Legátovás Sprache. In kurzen, lakonischen, scheinbar kunstlosen Sätzen erzählt sie die Geschichte der jungen Ärztin Eliška, die während der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen in ihrer Freizeit Kurierdienste für eine Widerstandsgruppe übernimmt – mehr aus Liebe zum Chefarzt denn aus politischer Motivation und ohne die leiseste Ahnung über dahinter stehende Ziele und Aktionen.

So trifft es sie völlig unvorbereitet, als die Gruppe auffliegt und auch sie selbst fliehen muss. Mit einem gefälschten Pass und einem ihrer Patienten, der aus dem Bergdorf Želary im mährisch-slowakischen Grenzgebiet stammt, wird sie in dessen Heimat geschickt. Dort soll sie den Hinterwäldler heiraten und sich verbergen, bis der Krieg zu Ende ist. Jung und unbedarft, wie Eliška ist, verzweifelt sie zunächst an ihrem Schicksal. Die Bergregion ist bitterarm, die Hütte, in der sie wohnen muss, primitiv und abgelegen, und zudem stellt sich heraus, dass sie offenbar den Dorftrottel geheiratet hat.

Ein dramatischer Auftakt für einen ungewöhnlichen Entwicklungsroman, der sich im Folgenden jeder Nacherzählung entzieht. Denn wie Eliška sich nach und nach wandelt, verzaubert wird durch die Menschen von Želary, das Leben in der Natur und die tiefe, selbstverständliche Liebe ihres Mannes Joza, wirkt klischeebeladen und kitschig. Doch Legátová erzählt diese unwahrscheinliche Geschichte so einfach, neu und selbstverständlich, dass so etwas wie die Urmutter aller Liebesgeschichten daraus wird. Tatsächlich endet auch Eliškas große Liebe mit der Vertreibung aus dem Paradies. Der Krieg, der am abgelegenen Želary so lange vorbeigegangen ist, holt es sich schließlich doch.

Legátovás Prosa hat selbst etwas vom Zauber, den jene Bergregion auf ihre Heldin ausübt. Lange bevor man es merkt, ist man ihm schon erlegen. Irgendwann ertappt man sich dabei, dass man manche dieser einfachen Sätze mehrmals liest, um ihrem Rätsel auf die Spur zu kommen. Doch sie bleiben, wie sie sind: ganz einfach. Legátová treibt kein Versteckspiel, sie reduziert lediglich das Erzählte auf das Wesentliche. Aber woher kann jemand so genau wissen, was das Wesentliche ist? Muss man dafür erst über achtzig werden?

Der große Erfolg jedenfalls kommt für die heute 85-Jährige ehemalige Dorfschullehrerin Věra Hofmanová, wie Květa Legátová richtig heißt, sehr spät. Dabei schrieb Hofmanová schon vor einem halben Jahrhundert unter einem anderen Pseudonym Romane, war später als Hörspielautorin erfolgreich – und blieb trotzdem so unbekannt, dass ihr Kurzgeschichtenband „Želary“, thematischer Vorgänger des vorliegenden Buches, 2001 von der tschechischen Kritik als sensationelles Debüt gefeiert wurde.

Die späte Debütantin erhielt für ihre Kurzgeschichten, die es leider bisher nicht auf Deutsch gibt, den tschechischen Nationalpreis für Literatur. „Der Mann aus Želary“ wiederum ist mittlerweile verfilmt worden. So besteht die vage Hoffnung, dass vielleicht der Film in Deutschland in den Verleih kommt, das Buch deswegen von ein paar Leuten gekauft wird und sich bald ein Verlag findet, der es wagt, auch die Kurzgeschichten zu veröffentlichen.

KATHARINA GRANZIN

Květa Legátová: „Der Mann aus Želary“. Aus dem Tschechischen von Sophia Marzolff. dtv, München 2004, 156 Seiten, 12 Euro