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Archiv-Artikel

Was Schröder nicht will: eine Hitliste der Reformstärke von EU-Staaten

Europa ist weit von seinem Ziel entfernt , im Jahr 2010 wirtschaftlich stärker als die USA oder Japan zu sein. Das zeigt der Zwischenbericht zur Lissabon-Strategie

BRÜSSEL taz ■ Als der holländische Expremier Wim Kok am Donnerstagabend bei den Staats- und Regierungschefs in Brüssel eintraf, hatte er ein schmales blaues Bändchen unter dem Arm. „Die Herausforderung annehmen“ lautet der aufmunternde Titel des Berichts, den eine Sachverständigengruppe unter seiner Leitung erstellt hat. Sie sollte untersuchen, warum es bei der so genannten Lissabon-Strategie nicht so recht vorangeht.

Hinter dem sperrigen Namen versteckt sich ein Beschluss, den die Staats- und Regierungschefs vor fünf Jahren bei einem Gipfel in Lissabon fassten. Bis 2010 soll die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Erde werden und die USA und Japan bei Wachstum und Beschäftigung überflügeln. Davon ist Europa weiter denn je entfernt, wie der Kok-Bericht auf 50 Seiten nüchtern zusammenträgt.

„Es zeichnet sich die Gefahr ab, dass das für 2010 ins Auge gefasste Ziel einer Beschäftigungsquote von 70 Prozent nicht erreicht wird. Gleiches gilt für das Ziel einer Beschäftigungsquote von 50 Prozent bei den älteren Arbeitskräften“, heißt es im Bericht. Tatsächlich liegt die Beschäftigungsquote für über 55-jährige Arbeitnehmer derzeit im Schnitt bei 41,7 Prozent. Nur sieben der fünfzehn alten Mitgliedstaaten werden das Zwischenziel einer allgemeinen Beschäftigungsquote von 67 Prozent nächstes Jahr schaffen.

Da sich die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik nicht von Brüssel verordnen lassen wollen, muss sich die Lissabon-Strategie mit kritischen Lageberichten, Reformvorschlägen und Appellen zu abgestimmtem zwischenstaatlichen Handeln bescheiden. Schon das geht einigen Mitgliedstaaten zu weit, wie die Reaktionen auf den Kok-Bericht gestern zeigten. So räumte Frankreichs Staatschef Jacques Chirac zwar ein, der Bericht sei „ein nützliches Werkzeug, um uns wirksamer und dynamischer zu machen“. Doch komme der soziale und der ökologische Aspekt des europäischen Wirtschaftsmodells bei den Handlungsvorschlägen zu kurz.

Bundeskanzler Schröder kritisierte den Vorschlag der Experten, Ranglisten über den Stand der Reformen in den Mitgliedsländern zu veröffentlichen. EU-Staaten an den Pranger zu stellen helfe nicht weiter. Für die nationalen Regierungen sei es dann noch schwerer, in der Bevölkerung Unterstützung für die mit Strukturreformen einhergehenden Belastungen zu finden, sagte Schröder nach Angaben aus Delegationskreisen. Der Hinweis im Bericht, der Stabilitätspakt habe in der Rezessionsphase keine wachstumsfördernde Wirkung entfalten können, dürfte sowohl Schröder als auch Chirac gefallen. Beide nutzten die Debatte zur wirtschaftlichen Lage erneut, um eine Reform des Paktes vorzuschlagen. Schröder vertrat die Überzeugung, Transferleistungen nach Brüssel müssten künftig aus dem Defizit herausgerechnet werden. Das bedeute im Umkehrschluss, dass bei Ländern, die EU-Subventionen erhielten, das Defizit entsprechend höher angesetzt werden müsse.

Diese Gedankenspiele sollen psychologisch den Boden für die kommende Finanzschlacht bereiten. Ab nächstem Jahr werden die Regierungen über die Finanzplanung der Jahre 2007 bis 2013 beraten. Festgezogen wird das Paket aus Mitgliedsbeiträgen und Fördermitteln voraussichtlich erst Ende 2006. Deutschland hat in weiser Voraussicht seine turnusgemäß fällige Ratspräsidentschaft mit Finnland getauscht, um in dieser heiklen Phase nicht den neutralen Vermittler spielen zu müssen, sondern für die eigenen Finanzinteressen in den Ring steigen zu können. Keinesfalls, so die Botschaft an die deutschen Wähler, darf der Nettozahler-Beitrag der Bundesrepublik weiter steigen.

DANIELA WEINGÄRTNER