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Archiv-Artikel

„Ökologie und Ökonomie versöhnen“

In 105 Tagen, am 20. Februar 2005, wählt Schleswig-Holstein einen neuen Landtag. Im taz-Interview zur Wahl heute: Anne Lütkes, Spitzenkandidatin der Grünen, über die rot-grüne Koalition, Aufgaben der Zivilgesellschaft und die Schule für alle

„Die kulturellen Gräben zum CDU-Spitzenkandidaten sind sehr tief, allein seine frauenpolitischen Vorstellungen sind doch sehr antiquiert.“

Interview:Esther Geißlingerund Sven-Michael Veit

taz: Die Grünen sind inzwischen als die wahre Partei der Besserverdienenden ausgemacht. Frau Lütkes, haben Sie zu Beginn Ihrer Karriere gedacht, dass Sie mal für die Betuchten und Gebildeten eintreten würden?

Anne Lütkes: Ob die Grünen die Partei der Besserverdienenden sind, ist nicht das Entscheidende. Wie ein Parteifreund mal gesagt hat: Die Grünen sind die Partei, die von den Gescheiten gewählt wird, von denen, die an die Zukunft denken. Ich selbst habe zu Beginn meiner politischen Arbeit nicht überlegt, ob mich jemand wählt – damals wie heute geht es mir um Inhalte.

Trotzdem: Ihr Wahlprogramm beginnt mit dem Thema Umwelt. Geht das nicht an vielen Menschen vorbei, die vor allem Angst vor Arbeitslosigkeit haben?

Die Grünen formulieren ihre Positionen ausgehend von der Vision einer gerechten Gesellschaft. Gleichzeitig sind wir nicht so wirklichkeitsfern, dass wir nicht auf Wähleranalysen achten würden. Daher wissen wir, dass die Wählerinnen und Wähler nach wie vor ökologische Kompetenz von uns erwarten. Aber das heißt ja nicht, dass das unser einziges Aufgabengebiet ist.

Bleiben wir bei den Arbeitsplätzen. Im Land gehen mehr verloren, als durch innovative Techniken entstehen. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Ökologie und Ökonomie?

Es geht ja nicht um einen Konflikt, sondern die Versöhnung dieser Pole. Da gibt es innovative Energien, die Arbeitsplätze schaffen, und es gibt die Pflicht, mit den Potenzialen zu arbeiten. Insofern heißt die Aufgabe, Klein- und Mittelbetriebe zu unterstützen, aber auch größere Betriebe, etwa Werften, voran zu bringen und Bundesmittel abzurufen.

Aktuell sind viele Arbeitsplätze durch den Abzug der Bundeswehr bedroht. Was tut das Land?

Es kommt darauf an, die betroffenen Standorte zu unterstützen, unter anderem durch Mittel des Regionalprogramms. Zuerst geht es um Gutachten, um Entwicklungsmanager. In Bundeswehreinrichtungen könnten neue Arbeitsfelder in Betreuung, Altenpflege und Wellness entstehen. Die Voraussetzung ist aber, dass der Bund die Altlastensanierung übernimmt und den Kommunen ermöglicht, die Flächen schnell zu verwerten.

In der Energiepolitik setzen Sie – ebenso wie die SPD – auf Offshore-Windkraft. Gehören solche Megaanlagen in das ökologisch wertvolle Wattenmeer?

Ich weiß, dass diese Frage einigen Bauchschmerzen bereitet. Aber ich vertraue der Sachkenntnis unserer Fachleute bei der Abwägung zwischen Naturschutz und Energiepolitik.

Ein nicht gelöstes Streitthema in der rot-grünen Koalition ist die feste Querung des Fehmarnbelts. Kommt es bald zu einer Lösung?

In dieser Legislaturperiode sicher nicht mehr. Aber bei den nächsten Koalitionsgesprächen werden wir eine Lösung finden müssen. Meiner Meinung nach muss sich der Wirtschaftsminister bewegen.

Sind solche Großprojekte überhaupt notwendig?

Ich bin sicher, dass eine Umfrage auf Fehmarn zeigen würde, dass die Menschen sowohl ökonomisch als auch ökologisch so ein Projekt für falsch halten. Und was die Finanzierung angeht: Schon im alten Koalitionsvertrag steht, dass für eine feste Beltquerung keine öffentlichen Gelder fließen dürfen.

Abgesehen davon scheint es, als herrsche in der Koalition eitel Sonnenschein. Täuscht das?

Die Arbeit der Landesregierung sollte man nicht danach beurteilen, wer in der Öffentlichkeit wen beißt. Das Entscheidende ist, dass wir politisch arbeiten, statt nur über Politik zu reden. Natürlich debattieren wir intensiv, etwa über die Innen- und Rechtspolitik. Da hat sich die grüne Sicht immer wieder gezeigt, auch in der Auseinandersetzung mit Otto Schily. Schleswig-Holstein hat deutlich gesagt, dass es einige Verschärfungen nicht mitmacht.

Auseinandersetzen müssen Sie sich auch mit den Nachbarn im Norden – Stichwort Airbus, Hafenpolitik, Elbvertiefung. Da vertritt die rot-grüne Landesregierung eine Position, die nicht der der Grünen im Land entspricht, es gibt auch Unterschiede zu den Hamburger Grünen. Wie kommen Sie aus dem Konflikt heraus?

Konflikte kann man Schritt für Schritt abbauen. Wenn man nicht zur Ideallösung kommt, muss man prüfen, was gemeinsam vertretbar ist. Die Grundpositionen sind bisweilen unterschiedlich, aber am Ende steht ein fundierter Kompromiss. Ich bin da nicht die Vertreterin der reinen grünen Lehre, sondern arbeite für eine Lösung. Ich finde, Abwägen ist eine hohe Kunst - ohne Aufgabe der eigenen Grundposition und der eigenen Identität.

Wie sieht es aus mit der Kooperation mit Hamburg?

Wenn verwaltungstechnische Abläufe zusammengelegt werden, spart es beiden Ländern Geld und hilft den Menschen – das ist gut. Aber wenn Sie zum Beispiel mein Ressort Justiz nehmen, sehen Sie, dass wir unvereinbare Positionen haben, da kann Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust noch so freundlich sein. Da läuft es eben nicht parallel, sondern gegeneinander.

Ich bin klar gegen Kinderknäste. Solche Fragen sind keine Ghettointeressen, sondern eine Zivilgesellschaft zeigt ihren Entwicklungsstand daran, wie sie mit Gefangenen und schwierigen Kindern umgeht. Oder denken Sie an Frauenhäuser. Hamburg schließt sie, wir haben sie finanziell abgesichert. Viele nennen das etwas spöttisch „weiche Standortfaktoren“, aber für mich macht das eine Gesellschaft aus.

Zurück ins Land, spekulieren wir über Wahlergebnisse. Schaffen Sie zweistellig?

Wir wünschen uns zweistellig. Aber auch ein Ergebnis um die neun Prozent wäre toll.

Was ist mit dem möglichen Koalitionspartner SSW?

Die SSW-Fraktionsvorsitzende Anke Spoorendonk hat gesagt, dass sie offen ist. Natürlich kämpfen wir um Rot-Grün. Aber es wäre blauäugig zu sagen, es wird auf jeden Fall reichen.

Wäre eine Minderheitsregierung möglich?

Natürlich – um Schwarz-Gelb zu verhindern. Es gibt vieles, wo mit dem SSW eine Verbindung da ist.

Gäbe es auch die andere Möglichkeit: Schwarz-Grün? Sie stammen aus Köln, da gibt es eine schwarz-grüne Koalition, nun auch in Kiel.

Das sind kommunale Bündnisse. Auf der Landesebene sind die kulturellen Gräben – vor allem zu dem CDU-Spitzenkandidaten – sehr tief, allein seine frauenpolitischen Vorstellungen sind doch sehr – ich möchte mal sagen – antiquiert.

Es kann der unschöne Fall eintreten, dass die NPD es in den Landtag schafft und damit eine große Koalition erzwingt.

Das könnte eintreten – der Kampf um jede rot-grüne Stimme ist unmittelbar verbunden mit dem Kampf gegen Rechts. Ich halte es daher für gefährlich, das Thema totzuschweigen.

Schleswig-Holstein hat ein Problem: die desolate Haushaltslage. Gesetzt den Fall, Sie würden weiter regieren, wie kriegen Sie diese Kuh vom Eis?

Wir haben eine Verwaltungsreform auf die Schiene gesetzt, die die CDU ja negiert, die aber Kosten spart. Und vor allem geht es um die Steuerreform, die wir im Bund durchsetzen wollen. Die Einkommenssteuervereinfachung muss kommen. Eine steuerliche Entlastung von Familien ist auch ein haushaltsrelevantes Thema. Auch etwas wie die Bürgerversicherung wirkt sich auf den Haushalt aus. Schleswig-Holstein muss noch stärker als bisher bundespolitisch aktiv sein.

Es geht also nicht aus eigener Kraft, der Bund muss helfen?

Der Bund muss nicht helfen, er muss handeln. Wir brauchen keine karitativen Einrichtungen, sondern es gibt eine politische Verpflichtung. Wir stehen nicht mit gefalteten Händen vor dem Bundesfinanzminister.

Die Schulpolitik entwickelt sich zu einem der großen Wahlkampfthemen – ist das eine ideologische Frage?

Das Entscheidende nach PISA ist eine Schule für alle. Dazu haben wir ein Konzept vorgelegt, das wollen wir umsetzen. Mir scheint schon, dass die eine Seite das Thema ideologisch überhöht – die meinen, man tut den Kindern etwas, wenn das System sich ändert. Das ist keine sachliche Auseinandersetzung mehr. Aber wir wollen eine Sachdiskussion führen. Und es ist ja auch Teil unserer Aufgabe, etwas weiter zu denken.