: Wie ich Neoliberaler wurde
Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, gingen zwei Welten zu Ende, die sich gar nicht so unähnlich waren. Doch was folgte dann? Für die einen war die Wende ein Verlust, für die anderen Neuanfang. Seitdem finde ich sogar Touristen toll
VON UWE RADA
Am Ende seines Kreuzberg-Romans lässt Sven Regener Herrn Lehmann noch den 9. November 1989 erleben. Herr Lehmann hat gerade seinen Kumpel ins Urban-Krankenhaus gebracht, sitzt in den Kneipe beim Bier, da kommt die Nachricht vom Fall der Mauer. Zum ersten Mal hat der Kreuzberger, der so gerne seine Zeit in Kneipen totgeschlagen hat, eine Meinung. Er sagt: „Ach, du Scheiße.“
Das war’s also mit Kreuzberg und Westberlin, jener Überlebenskünstlerwelt, die Sven Regener auch als Sänger von Element of Crime gerne wach hält. „Lass uns noch mal um die Häuser ziehn / schonungslos und ohne Hintersinn / willenlos und immer mittendrin / an den letzten warmen Tagen in Berlin“, heißt es in einer der wunderschönen Balladen. Während die Ostalgiewelle durch jede Talkshow tourte, wissen wir von ihrer Schwester im Geiste, der Westalgie, noch immer recht wenig.
Einen Tag nachdem die Mauer fiel, bin ich mit Freunden zum Aufnahmelager Marienfelde und habe Flugblätter verteilt: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Erst als ich die ersten Freundschaften mit DDR-Oppositionellen geschlossen hatte, habe ich zu begreifen begonnen, was da am 9. November zu Ende gegangen war: ein System, dessen Schmiermittel die Überzeugung war, dass der Zweck die Mittel schon heilige. Zu meinem Erstaunen musste ich beobachten, dass die Botschaft im Osten angekommen war. In Westberlin dagegen träumten sie noch immer vom Kommunismus. Stalin saß tiefer, als wir es wahrhaben wollten.
Seit der Wende gibt es eine seltsame Frontstellung in dieser Stadt, die so gar nichts mit dem Ost-West-Gegensatz zu tun haben will. Für die einen war der Fall der Mauer Verlust, für die andern ein Neuanfang. Die einen haben sich eingebunkert in ihren Geschichten und verfeinern seitdem die hohe Kunst der Verteidigung. Die andern sind neugierig geworden und haben sich neue Möglichkeitsräume erobert. Die einen nehmen noch heute die Öffnung der Oberbaumbrücke übel, die andern freuen sich über das bisschen Glamour, den MTV und Universal in die Oberbaum-City gebracht haben. Die Front, die so quer durch alle Lager läuft, heißt: „Wie hältst du es mit der Veränderung?“
Muss man an dieser Stelle erwähnen, wie vieles sich zum Schlechten verändert hat? Wie die Stadt ihr Vermögen verschleudert, ohne dafür etwas zu bekommen? Wie die Trennung in gute Viertel, schlechte Viertel auch von denen betrieben wird, die sie wortreich beklagen? Wie die Nischen der Kreuzberger und Prenzelberger Lebenskunst von den Nischen des Marktes verdrängt wurden? Es ist wahr: Die Glasglocke ist weg. Wir leben in Echtzeit. Es hätte auch schlimmer kommen können.
Was ich in den vergangenen 15 Jahren erlebt habe, waren Deutungskämpfe: wwischen Ostlern und Westlern, zwischen Retros und Modernen, zwischen Europäern und Grenzschützern. Am Ende dieser Kämpfe muss ich feststellen: Ich weiß nicht einmal mehr, wo der Gegner steht. Selbst der Volkspalast, sagte neulich ein Architekt im taz-Interview, ist als Symbol des leeren Raums, den es zu füllen gilt, eine Metapher des Neoliberalismus geworden. Hat er Recht oder nicht? Wem nützt das Modethema der Urbanisten – „Temporäre Nutzung“? Den Künstlern, die den vergessenen Räumen neues Leben einhauchen? Oder Unternehmensberatern wie McKinsey, die solches Tun sponsern?
Muss ich das wissen? Manchmal ist die Dynamik der Veränderung größer als die Worte, mit denen wir sie das festhalten mögen, was so flüchtig geworden ist: Gegenwart. Herr Lehmann lebte in einer Gegenwart, in der es keine Vergangenheit gab und keine Zukunft. Sven Regener dagegen schrieb die Geschichte seines Helden in einer Zeit, in der es nur noch Vergangenheit gibt und ein bisschen Zukunft.
Berlin hat sich geändert. Ich habe mich mit Berlin verändert. Früher haben wir mit Farbbeuteln auf Touristenbusse geworden. Heute freuen wir uns, wenn Berlin Rom den dritten Rang der europäischen Touristenhauptstädte abgelaufen hat. Früher galt uns der eigene Blick alles, heute freuen wir uns über jeden Blick von außen. Sind wir nur erwachsen geworden? Oder ist auch die Stadt reifer geworden? Selbst die Bullen benehmen sich inzwischen wie Bürger, die meisten jedenfalls.
Manchmal macht, auch in unserer Redaktion, das Wort vom „Linkssein“ die Runde. Dann fühle ich mich meistens ertappt. Bin ich noch links? Was, um Himmels willen, ist das in Zeiten, in denen meine Gewerkschaft für ihre Schreibtischhocker die Stadt am liebsten in die Pleite jagen würde? In denen falsch verstandene Solidarität mit Aggressivität beantwortet wird? Was in Zeiten, in denen die Profiteure des Bankenskandals auf eine rot-rote Landesregierung hoffen dürfen? Ich bin manchmal zuversichtlich, manchmal übermütig, manchmal enttäuscht, aber bin ich links?
In den Tagen, in denen sich der 9. November zu nähern beginnt, höre ich öfter als sonst Element of Crime oder Keimzeit. Dann fragt mich meine Umgebung plötzlich, was los mit mir sei. „War doch ’ne schöne Zeit, damals, findet ihr nicht?“, gebe ich zur Antwort. „Was denn, plötzlich sentimental?“, meint die Umgebung. „Du bist doch sonst immer so neoliberal!“