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Archiv-Artikel

Kranksein in der Fremde

Sprachprobleme und der andere kulturelle Hintergrund führen oft zu einer falschen medizinischen Behandlung von Migranten. Die transkulturelle Medizinforschung will hier Abhilfe schaffen

von HILTRUD BAUR

Menschen aus dem Mittelmeerraum sind schmerzempfindlicher als Mitteleuropäer – diese Vermutung spukt durch manchen Medizinerkopf. Stimmt nicht, meint Gernot Ernst, Schmerzforscher und Anästhesist, in dem Buch „Migration – Frauen – Gesundheit“. Er befragte über 800 Bewohner des Berliner Bezirks Wedding nach chronischen Schmerzen. Gleichzeitig erfasste er Bildung, Einkommen und Wohnungsgröße. Sein Ergebnis: Die Fähigkeit, körperliche Befindlichkeit zu beschreiben, hängt mit der sozialen, nicht mit der kulturellen Herkunft zusammen. Sozial Schwache schildern Schmerzen ungenauer, aber dafür dramatischer.

Missverständnisse sind zwischen Menschen verschiedener Kulturen vorprogrammiert. Wer in der Fremde krank wird, fühlt sich besonders hilflos. Die transkulturelle Medizinforschung untersucht, wie Menschen anderer Kulturen mit Krankheit und Gesundheit umgehen. Werden Migranten anders krank? Sind sie gut versorgt in unserem Gesundheitssystem?

„Die größten Mängel gibt es bei der Aufklärung. Die Migrantinnen wollen bei der Behandlung mehr mitbestimmen“, berichtet Theda Borde von der Arbeitsgruppe „Migration und Gesundheit“ an der Berliner Charité. Sie befragte etwa 600 deutsche und türkische Patientinnen der gynäkologischen Abteilung. Über 80 Prozent der Frauen türkischer Herkunft wollten bei der Behandlung mitbestimmen. Das Personal bekommt davon nicht viel mit. Mehr als die Hälfte nahm an, türkische Frauen wünschten eine paternalistische Betreuung.

Vor allem Sprachprobleme halten die Patientinnen jedoch häufig unmündig. „Sie hat alles sehr gut erklärt, aber ich habe nichts verstanden“, schilderte eine türkische Patientin das Aufklärungsgespräch mit der Ärztin. In der Regel übersetzt, wer gerade da ist. Im günstigsten Fall jemand vom medizinischen Personal. Meistens der Mann, die Kinder, die Bettnachbarin oder auch die Putzfrau. Zur Not erfährt der Arzt auf diesem Weg auch Details gynäkologischer oder psychiatrischer Krankengeschichten.

In einer fremden Sprache körperliche Beschwerden zu schildern ist schwierig, seelische Not zu beschreiben manchmal unmöglich. Für psychisch Kranke ist die Barriere zur medizinischen Hilfe in der Fremde besonders hoch. Deshalb bietet die psychiatrische Klinik der Charité die Sprechstunde „Transkulturelle Psychiatrie“ an.

„Migration verläuft in verschiedenen Phasen. Erst einige Zeit nach der Ankunft beginnt eine Phase der Verunsicherung, während der die Stabilität der Persönlichkeit besonders leicht zu erschüttern ist“, beschreibt die Oberärztin Ernestine Wohlfart die Situation ihrer Patienten.

Zum Team gehören muttersprachliche Dolmetscher, die sich psychiatrisch weiterbilden. Umgekehrt informieren sie die Therapeuten über kulturelle Hintergründe. Auch Ethnologen arbeiten mit der Spezialambulanz zusammen. Denn wer sich bei der Behandlung fremder Seelen nur auf westliche Diagnosesysteme stützt, zieht oft falsche Schlüsse.

Wohlfart erzählt ein Beispiel: Eine gläubige Muslimin kauft sich an einem religiösen Feiertag Parfum. Abends besucht sie ihre Schwester. Als im Hausflur das Licht ausgeht, findet die Frau nicht sofort die Türklinke. In der Dunkelheit sieht sie Geister.

Geistererscheinungen sind für westliche Psychiater Wahnvorstellungen. Der Patient leidet wahrscheinlich an Schizophrenie. Der Glaube an Geister und Zauberei ist aber in vielen Kulturen tief verwurzelt. „Die Frau erlitt eine Angstattacke und sah deshalb Geister. Eine Deutsche hätte wahrscheinlich über Herzrasen und Luftnot geklagt“, erläutert Wohlfart. Vermutliche Ursache der Attacke: Die Frau fühlte sich schuldig, weil sie sich entgegen den Vorschriften am Feiertag ein Luxusgut gekauft hatte.

Wahnvorstellungen behandelt man mit Psychopharmaka, gegen Angstattacken genügt in der Regel eine Psychotherapie. Immer wieder kommen Patienten in die Spezialambulanz, die fälschlicherweise Psychopharmaka erhalten, weil ihr Arzt den kulturellen Hintergrund ihrer Geschichte nicht erkannte.

Der Therapeut muss nicht nur mit der übersinnlichen Welt seines Patienten vertraut sein. Möglicherweise entwickelt der sogar andere Symptome als ein Deutscher, der an der gleichen Krankheit leidet. Denn Menschen empfinden und präsentieren Symptome, die ihre Kultur akzeptiert. Andere Krankheitszeichen verdrängen sie. „Was auf die Bühne darf, was unterdrückt werden darf, das bestimmt die Kultur“, formulierte der Ethno-Psychoanalytiker Manuel Erdheim.

Ein Depressiver aus Taiwan erzählt seinem Arzt zum Beispiel nicht, er fühle sich traurig und niedergeschlagen, sondern er klagt vor allem über Antriebslosigkeit. Erkennt der Arzt die seelische Not nicht und behandelt den Körper, fördert er die Entstehung einer psychosomatischen Krankheit.

Auch das Selbstbild der Menschen ist von der Kultur geprägt. Bei uns steht das Individuum im Zentrum. In anderen Ländern ist die Rolle in der Gemeinschaft wichtiger als das Ego. Gruppenrituale geben Halt. Kolonialisierung und Migration haben aber das soziale Gefüge erschüttert. Vor allem den jüngeren Migranten fehlen Leitbilder und Orientierung. Kulturelle Spannungen verweben sich mit Emotionen. Die Menschen werden unsicher.

Als eine der Folgen nehmen Essstörungen bei jungen Frauen aus islamischen Kulturen zu. Denn ihr Körperbild ändert sich. Bis vor wenigen Jahren waren Essstörungen bei diesen Frauen die große Ausnahme.

Auch die jungen Männer passen sich an. Sie trinken mehr Alkohol als ihre Väter. Aber weniger als deutsche Gleichaltrige. Andere Drogen wie zum Beispiel Ecstacy sind in beiden Gruppen gleich verbreitet. Wahrscheinlich sind etwa 20 Prozent der jungen Drogenabhängigen Migranten. Das entspricht ihrem Anteil an dieser Altersklasse. Aber 98 Prozent der Hilfesuchenden in Drogenberatungsstellen sind Deutsche.

„Abhängige Migranten werden von unserem Hilfesystem nicht gut aufgefangen“, weiß Professor Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrie an der Berliner Charité. Unwissenheit, Scham und Angst vor rechtlichen Folgen könnten die jungen Suchtkranken abhalten. Vermutlich schicken auch manche Familien ihre Problemkinder einfach ins Heimatland zurück.