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Archiv-Artikel

Vor der Tat

Jährlich werden in Deutschland 16.000 Fälle von sexuellen Übergriffen auf Kinder angezeigt. In Kiel kümmert sich nun eine neue Initiative um Menschen mit pädophilen Neigungen, und damit um potenzielle Täter. Deren Therapie sei Opferschutz

VON MAXIMILIAN PROBST

Ein wenig muss man an die antike Vorstellung vom Schicksal denken, wenn man sich Fälle von Pädophilie anschaut. Denn Pädophilie ist nichts, was man sich aussuchen, nichts, wozu man sich entscheiden könnte. Sondern ein Phänomen, das den einen trifft, den anderen nicht, aus bislang unerfindlichen Gründen und ein für alle Mal, irreversibel. Und fast unvermeidlich – aber eben nur fast – mündet das sexuelle Hingezogensein zu präpubertären Kindern in Schuld und Verbrechen.

Pädophile könnten ihre Neigung nicht loswerden. „Sie können aber lernen, damit umzugehen, so dass daraus keine Taten werden“, erklärt Hartmut Bosinski, Leiter der Sektion für Sexualmedizin des Kieler Universitätsklinikums, der seit kurzem einer neuen Initiative vorsteht: der Initiative „Kein Täter werden“, die anonym und kostenlos Menschen mit pädophilen Neigungen Hilfe bietet. Denn Tätertherapie, sagt Bosinski, sei Opferschutz.

Hintergrund ist, dass in Deutschland rund 16.000 sexuelle Missbrauchstaten an Kindern angezeigt werden, Jahr für Jahr. Und die Hälfte dieser Taten, sagt Bosinski, würden von Menschen begangen, die exklusiv pädophile Neigungen hätten, im Unterschied zu Straftätern, die sich ersatzweise an Kindern vergingen. Dabei geht man in Kiel davon aus, dass die Mehrzahl sexueller Übergriffe gar nicht zur Anzeige gelangen. Die Dunkelziffer, so rechnet man, dürfte die 16.000 angezeigten Fälle um ein vielfaches übersteigen.

Die Kieler Initiative ist der erste regionale Ableger eines bereits vor vier Jahren angelaufenen Projekts der Charité. In der Berliner Klinik haben sich seither 800 Menschen gemeldet. Die Berliner Sexualforscher haben auch den Prozentsatz der Menschen zu errechnen versucht, die von pädophilen Neigungen betroffen sind. Herausgekommen sind Werte zwischen 0,23 und 0,73. Bundesweit hochgerechnet ergibt das eine Zahl zwischen 70.000 und 220.000 Menschen.

Auffällig ist dabei, dass es sich bei Pädophilen fast ausschließlich um Männer zu handeln scheint. Unter den 800 Menschen, die sich in Berlin gemeldet haben, waren lediglich zwei Frauen. Man könne es aber nicht ausschließen, sagt Bosinski, dass die Zahl der Frauen weit höher läge, und dass sich Pädophilie bei Frauen nur nicht zeige, weil sie anderen Tatmustern folge. Er selbst schätzt aber, dass im Fall von Pädophilie „auf 1.000 Männer eine Frau kommt“.

„Für diese Menschen gibt es eine eklatante Versorgungslücke“, sagt Bosinski. So hätte, wer sich wegen pädophiler Neigungen an einen Psychologen oder Arzt gewandt habe, bislang immer eine von drei Antworten zu hören bekommen: „Das sind doch nur Phantasien. Oder: Ja, das ist schlimm, aber da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Oder: Raus aus meiner Praxis. Ich will mit Leuten wie Ihnen nichts zu schaffen haben.“ So erzählt es Bosinski. Und Barbara Schäfer-Wiegand von der Kinderschutzstiftung Hänsel und Gretel sagt, „dass es noch zu wenig Ärzte und Psychotherapeuten gibt, die im Bereich Sexualmedizin ausreichend ausgebildet sind“. Tatsache ist, dass es in Deutschland nur drei Universitäten gibt, an denen Sexualmedizin vermittelt wird, nämlich die Hamburger, die Berliner und die Kieler.

In Kiel ist nun das Projekt mit einem Therapeut und einer technischen Hilfskraft vor etwa einem Monat an den Start gegangen. Finanziert wird es zwei Jahre mit 80.000 Euro vom Land Schleswig-Holstein. Inhaltlich wird es darum gehen, die Betroffenen zu sensibilisieren, dass die Pädophilie ihre Achillesferse ist. „Viele flüchten sich in die verzerrte Wahrnehmung, dass ihr Verhalten den Kindern gar nicht schade, dass die es ja auch wollten.“ In Kiel will man nun diesen Menschen vermitteln, dass es kein harmloses Sexualverhalten zu Kindern gibt. Dass auch hinter jedem Kinderporno ein Missbrauch steht. Und dass sie folglich asexuell leben müssen. Erreicht werden soll das in Kiel über Psychotherapie in Kombination mit triebhemmenden Medikamenten.

Umgekehrt müsse sich auch der Umgang der Gesellschaft mit dem Thema ändern, fordert Bosinski. Man dürfe die Pädophilie nicht entkriminalisieren und entpathologisieren, sagte er. „Aber mit Dramatisierung und Dämonisierung ist auch nichts getan.“ Das isoliere die Betroffenen, und erschwere ihre Auseinandersetzung mit dem Leiden. Ähnlich äußerste sich Schäfer-Wiegand: Sie begrüßte die Initiative, weil sie unter anderem dazu beitrage, das Thema zu enttabuisieren.

Ganz soweit ist man in Kiel aber noch nicht. Bislang haben sich sieben Männer gemeldet, mit dreien habe man ein Gespräch vereinbart, sagt Bosinski. „Es wissen noch zu Wenige, dass es uns gibt.“