: „Überholen ohne einzuholen“
Walter Ulbrichts Forderung war das sinnvollste Vorhaben des Sozialismus. Es ist nicht gelungen – was blieb,war Mangelwirtschaft. Sie ließ die Ware zum Fetisch werden, wie es der Kapitalismus nie vermocht hat
VON MICHAEL HARMS
Am Vormittag des 10. November 1989, an meinem ersten Tag in Westberlin, erwarb ich für 3,99 DM aus meinem Begrüßungsgeld einen Seifenbeutel und war damit vom Kapitalismus überzeugt.
Für jene, die sich an dieses typische 80er-Jahre-Produkt nicht mehr erinnern: ein Seifenbeutel ist ein kleines, farbenfroh gestaltetes Plastiknetz, in dem man Seifenreste sammelt. Unter der Dusche stellt sich beim Benutzen der Effekt einer eingeseiften Bürste ein.
Mein Seifenbeutel war mir kurz vor der Maueröffnung abhanden gekommen. So versuchte ich in diesen historischen Tagen einen neuen zu kaufen: vergebens. In keiner Drogerie der Hauptstadt der DDR waren Seifenbeutel im Angebot. War die einzige Seifenbeutelflechtmaschine der ostdeutschen Volkswirtschaft just in den Tagen des Umbruchs ausgefallen? Hatte die staatliche Plankommission die Seifenbeutelproduktion auf einmal für unnötig befunden?
Ich ließ mein großes Ziel auch in der Euphorie der Maueröffnung nicht aus den Augen. Vor dem ersten Kaufhaus im Westen erklärte ich meiner Freundin in aller Entschiedenheit, ich würde jetzt hineingehen und nach einem Seifenbeutel fragen. Und wenn ich ihn kaufen könnte, würde ich auf der Stelle die Überlegenheit des kapitalistischen Systems anerkennen.
Ein Plastiknetz als Beweis der Überlegenheit der Marktwirtschaft? Für mich ist der Beweis noch heute stichhaltig. Denn die Niederlage des Staatssozialismus auf ökonomischem Gebiet erscheint uns heute so selbstverständlich, dass wir den Ausgangspunkt des Systemwettbewerbs nahezu verdrängt haben: Es war die Wirtschaft. Nach der Theorie von Marx erweist sich eine neue Gesellschaftsformation der alten nicht primär durch einen Zugewinn an Freiheit oder eine höhere Kultur überlegen. In erster Linie geht es um eine optimale Entfaltung der Produktivkräfte, die die neuen Produktionsverhältnisse garantieren müssen. Der Sozialismus könne nur siegen, dekretierte Lenin kurz nach der russischen Revolution, wenn er eine höhere Arbeitsproduktivität als der Kapitalismus erreiche. Die Produktion nach Plan mit vergesellschaftetem Eigentum sollte daher rational und effektiv sein und letztendlich zu mehr Überfluss und einem höheren Wohlstand für alle führen.
Doch trotz aller quantitativen Produktionsrekorde bei Stahl, Kohle und Traktoren wurde das Ziel einer höheren Arbeitsproduktivität nie erreicht. Walter Ulbricht prägte quasi im Vorgriff auf das ökonomische Scheitern das berühmte „Überholen ohne einzuholen“.
Heutzutage macht man sich darüber oft lustig, doch dazu besteht kein Grund. Denn diese These ist die tiefste und klügste der ganzen DDR-Geschichte. Der Sozialismus hätte nur eine Chance gehabt, wenn er den Kapitalismus mit eigenen, nicht-marktwirtschaftlichen Instrumenten aus dem Felde geschlagen hätte. „Neues ökonomisches System“ in der DDR der Sechzigerjahre oder das Prinzip der „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ unter Gorbatschow waren letzten Endes nur kosmetische Eingriffe. Ein wirksames Rezept zur Steigerung der ökonomischen Effektivität jenseits von Wettbewerbsauslese und Konkurrenzdruck wurde in der DDR nie gefunden. „Ein bisschen Kapitalismus“ war hoffnungslos – besser als der Kapitalismus macht es auf wirtschaftlichem Gebiet nur der Kapitalismus selbst.
Das ursprünglich auf ökonomische Rationalität und Effizienz ausgelegte System der Zentralplanung (es sollte ja Wirtschaftskrisen, Überproduktion und Ressourcenverschwendung vermeiden) führte damit in der Praxis zu Mangel, Ineffizienz und einem permanenten ökonomischen Ausnahmezustand.
Und hier kommt die Seifenbeutel-Parabel wieder ins Spiel, diesmal nicht als Symbol marktwirtschaftlichen Überflusses und damit ökonomischer Stärke, sondern als kleines Zeichen von Freiheit. In meiner Geschichte steht sie für eine freie Kaufentscheidung des „mündigen Konsumenten“. Denn nicht der Konsumterror, sondern das allgemeine Defizit macht die Menschen zu Sklaven der Ware.
Viele meiner Generation können sich sicher noch an die Faszination eines Pelikan-„Tintenkillers“ oder an die Erniedrigung beim Einkauf in der „Jugendmode“ erinnern. Der Mangel überhöht die simpelsten Dinge des Lebens zu Objekten unbändiger Begehrlichkeit. „Wenn ich doch nur diese Jeans oder diese Stones-Platte hätte.“
Der Fetischcharakter der Ware, fester Bestandteil jeder Kapitalismuskritik, erfuhr seine praktische Inkarnation in der sozialistischen „Was gibt es heute gerade nicht“-Ökonomie. Im Gegensatz dazu reduzieren der Überfluss und die allgemeine, allzeitige Verfügbarkeit der Waren den Seifenbeutel vom kapitalistischen Traum auf das, was er in Wirklichkeit ist: ein ödes Plastikteil aus der Woolworth-Kosmetikabteilung.
An dem besagten 10. November habe ich in dem symbolischen Kaufakt den Fetisch zerstört und einen wichtigen Teil meiner Souveränität zurückgewonnen: Die Dinge gehorchen wieder mir. Einen Seifenbeutel benutze ich seitdem nicht mehr. Allein, mein Glaube an den Kapitalismus und seine Überlegenheit ist geblieben.
MICHAEL HARMS ist Referent beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)