piwik no script img

Archiv-Artikel

Christkindchen backt

Duisburg – das ist Sexualität & Betäubungsmittel & Rock ’n’ Roll. Porträt einer Stadt als junge Durchgangsstation

Was ist ein Buff?, fragt das Kind. Und die weise Mutter antwortet: Ein Vulkan

Das Kind wacht auf. Ängstlich schaut es aus dem Fenster. Der Himmel ist rot erleuchtet. Christkindchen backt, beruhigt die Mutter das Kind. Für Weihnachten. Zimtsterne, träumt das Kind, als es besänftigt einschläft. Erst sehr viel später wird es erfahren, dass der Stahlabstich den Nachthimmel rot färbt. Dort am Rhein. In der Nachbarstadt.

Duisburg ist die Nachbarin, die verhasste, und die Stadt der Verheißung. Sie ist bedrohlich groß und begehrlich nahe. Duisburg bietet alles, was eine Jugend braucht: Sexualität & Betäubungsmittel & Rock ’n’ Roll.

Beinahe wie eine echte Weltstadt liegt Duisburg am Wasser, besitzt sogar den größten Binnenhafen Europas und ein passendes Rotlichtviertel mit dem becircenden Namen Vulkanstraße. Das dem kleinen, erstmals mit der Mutter über die Autobahn in die große Stadt einfahrenden Kind noch Jahre später sexuelle Rätsel aufgibt: Was ist denn ein Buff?, fragt das unwissende Kind. Und die weise Mutter antwortet: Ein Vulkan.

Im Jahr 1975 überschreitet Duisburg den Rubikon bzw. Rhein und gemeindet die links des Flusses liegenden Orte Baerl, Homberg, Rheinhausen und Rumeln-Kaldenhausen ein. Plötzlich ist Duisburg mit 600.000 Einwohnern riesengroß, und in den linksrheinischen Städten tauchen Warnplakate auf: „Der böse Wolf“ wolle noch mehr „Geißlein“ fressen. Schafshirnige Provinzparteipolitikerpublicrelation, die genau das Gegenteil des Gewünschten erreicht. Der Moloch Duisburg gilt Ende der Siebzigerjahre als antichic und somit wieder chic.

Proletencharme und Ghetto-Atmosphäre, eine sterbende Industrie und heruntergekommene Viertel finden folgerichtig ihren symbolischen Ausdruck: in der Parkajacke eines Fernsehpolizisten. Der neue „Tatort“ mit dem kumpeligen Kommissar Horst Schimanski wird zur ersten kulturellen Leistung der Stadt, seit Mercator hier im 16. Jahrhundert seine Weltkarten zeichnete. Der Darsteller Götz George gelangt mit dem 23- oder 35-maligen Ausruf „Scheiße!“ in einer Sendung sogar auf die Seite eins der sauberen Bild-Zeitung – und Duisburg hat es endgültig geschafft. Aus dem dunklen Rauch der Schlote tritt es auf die deutsche Weltbühne. Auch wenn sich manche Stadtgranden genieren ob des Schmuddel-Images und fordern, dass im TV-Krimi bitte die „erholungsintensiven Grüngürtel“ der „Ruhrmetropole“ erwähnt werden sollen.

Allmählich erobert das nun älter werdende Kind die große Stadt über die Nachbarviertel und ihre verheißungsvollen Jugendzentren: das „Kifferschinderheim“ in Homberg, den „Tempel“ in Rheinhausen und das „Eschhaus“ in der Stadtmitte. Frühlings Erwachen mit allen notwendigen Konsequenzen: Auf Pubertätspartys wird viel geraucht und getrunken, noch mehr gebrochen und auch schon mal von zwanzig hormongeschädigten Jungen in eine Orangensaftflasche gewichst.

Es wird Tage um Tage „Risiko“ gespielt – und auf einmal mitten in der Nacht abgebrochen. Bloß raus aus Duisburg. Jetzt fahren wir in die Eifel, nein, nach Nijmegen ins „Roesje“, ach, da waren wir letzte Woche, dann besser nach Hamburg. Eine Platte Libanese eingepackt. Mit den beiden „Türkenblitzen“ auf die „Bahn“. Eine lange, ruhige Nachtfahrt im Ford 17 M und im 200er-Daimler. Mit vielen Stopps zum Nachtanken. Im Morgengrauen auf dem Fischmarkt angekommen, heißt es nach fünf Minuten: Ach, lasst uns zurückfahren. 300 Kilometer später, im dichten Sonntagsverkehr vor dem Kamener Kreuz, verständigt man sich von Wagen zu Wagen: Rotieren! Während der Fahrt! Bei Tempo 100! Alle Scheiben herunter- und die Boxen aufdrehen: „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“. Türkenblitz eins lässt sich zurückfallen, der Fahrer steigt auf den Rücksitz, der Beifahrer mit dem Fuß auf das Gaspedal und hinters Lenkrad, vom Rücksitz klettert einer auf den Beifahrersitz und der Letzte rückt nach rechts herüber. Der neue Fahrer beschleunigt und schließt unter dem Jubel der anderen Besatzung zum Türkenblitz zwei auf, der nun unter dem empörten Winken der Pepita tragenden Vatis das Wechselspiel wiederholt. Der niederrheinischen Sonne und Duisburg entgegen, das man gestern erst verlassen hat. „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn / fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn / Vor uns liegt ein weites Tal / die Sonne scheint – ein Glitzerstrahl!“ Es gibt Gründe dafür, warum manche Menschen keinen Führerschein haben, nie einen hatten.

Abends geht es dann ins geheime Zentrum von Duisburg – ins „Old Daddy“. Eine höllisch laute Gewölbe-Diskothek, zu der man gut hundert Treppen hinabsteigt. Doch zuvor muss man Zerberus passieren. Am oberen Eingang des „Daddy“ thront ein circa 180 Kilogramm schwerer Rocker mit seinen Verzehrbons. Der große Schweiger. Jahre später soll er angeblich von einer konkurrierenden Rockerbande überrollt worden sein. Man habe ihm nachher im Krankenhaus ein Gummikinn eingesetzt, und heute schweige er noch intensiver, heißt es.

Ruppige Frauen, schales Bier, ranzige Musik – das ist also Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll, denkt das „Daddy“-Kind, wenn es hier übernachtet, bevor im Morgengrauen der Bus heimfährt. Müde lernt es eine „Daddy“-Frau kennen. Und es folgt, was folgen muss: Geknutsche, Gerolle, Gedrücke, Geschniefe, Gelbsucht, Entzug macht die Freundin durch und mit ihr das Gar-nicht-mehr-Kind. Das seine pubertären Träume einstweilen schwinden sieht. Hat Duisburg doch endlich, endlich seine U-Bahn, an deren etwa dreieinhalb Stationen jahrzehntelang für eine Milliardensumme herumgebaut wurde. Immer wollte das frühere Kind dort als U-Bahn-Krimineller arbeiten. Eine verspiegelte Sonnenbrille tragen und die Arme verschränkt, das rechte Bein angewinkelt und den Fuß an die Mauer gedrückt, auf Kunden oder Opfer warten – wie es sich gehört im Underground: „I’m waiting for my man“. Leider garantiert das Einzugsgebiet von dreieinhalb U-Bahn-Stationen nur wenig Kundschaft. Die sowieso lieber auf dem Weg nach Amsterdam ist.

Kommt das ehemalige Kind heute durch die Ex-Nachbarstadt, wundert es sich schon sehr. Dass überhaupt Menschen in diesem seltsam zusammengeschmiedeten Gebilde Duisburg leben wollen. Und darüber, dass es dort ständig regnet. Nie leuchtet der Himmel. Denn Christkindchen backt nicht mehr. Es ist weitergefahren. MICHAEL RINGEL