Sonnenschein am Stacheldraht

Südkorea hat vom Untergang der DDR gelernt, dass ein Zusammenbruch Nordkoreas nicht wünschenswert ist. Eine friedliche Wiedervereinigung mit dem Norden steht erst auf der Tagesordnung, wenn Pjöngjang sein Atomprogramm aufgegeben hat

AUS PEKING OTTO MANN

Die Regierung Südkoreas zeigte sich pflichtgemäß optimistisch. Nordkorea werde notgedrungen einsehen, dass es jetzt weiter mit der Bush-Regierung umgehen müsse und möglicherweise neuen Sechsergesprächen über sein Atomprogramm zustimmen, sagte Außenminister Ban Ki Moon, als er vor der Nationalversammlung in Seoul seine Sicht auf den Ausgang der Wahlen in den USA vortrug. Sonnenschein am Horizont sah auch Präsident Roh Moo Hyun, der im Gespräch mit ausländischen Geschäftsleuten versicherte, der Konflikt auf der Halbinsel werde ganz gewiss friedlich gelöst werden. Wenn denn George W. Bush und seine Mannschaft mitspielen. Denn die Fronten zwischen Pjöngjang und dem Rest der Welt sind verhärtet wie eh und je.

Als vor 15 Jahren die Berliner Mauer fiel, begann auch in Korea die Hoffnung zu wachsen. Im Süden orientierte die Sonnenscheinpolitik der Regierung auf einen Wandel durch Annäherung und letztlich die Wiedervereinigung. Der Norden wird hier durchaus nicht überwiegend als Schurkenstaat wahrgenommen, und eine kürzliche Umfrage unter 1.200 Jugendlichen ergab, dass fast 80 Prozent bereit waren, Nordkoreaner als „enge Freunde“ bei sich aufzunehmen. Auch im hermetisch abgeschotteten Norden wird die Wiedervereinigung als hehres Ziel proklamiert. Die erschütternden Wiedersehensszenen alter und ein halbes Jahrhundert getrennter Menschen bei den wenigen offiziell vereinbarten Verwandtenbesuchen über Stacheldraht und Todesstreifen sprechen Bände. Warum also nicht: hier wie dort eine unüberwindliche Grenze mit einem wirtschaftlich freien und prosperierenden System auf der einen und den kommunistisch beherrschten ärmeren Brüdern und Schwestern eingesperrt auf der anderen Seite.

Aber die Parallelen stimmen so nicht. Der 248 km lange Todesstreifen am 38. Breitengrad hat die beiden Landeshälften seit dem Ende des Koreakrieges (1950–53) nahezu lückenlos abgeschottet, ohne gegenseitige Besuche, ohne direkten Handel, Verkehr oder Postverbindungen. Anders als damals die DDR, ist Nordkorea weltweit isoliert, herrscht ein grotesker Personenkult, sind Hunger und Elend an der Tagesordnung, erfolgt der wirtschaftliche Niedergang im Sturzflug. Südkorea weiß, dass die friedliche Vereinnahmung der DDR durch den Westen nicht kopiert werden kann, weil hier die Ausdehnung des Partei- und des Regierungssystems auf den Norden unmöglich sind. Für eine friedliche Übernahme ist es also zu früh. Zudem beziffern inoffizielle Schätzungen in Südkorea die Kosten der Wiedervereinigung auf das Fünf- oder Sechsfache des südkoreanischen Bruttoinlandsprodukts. Damit ginge Seoul weit tiefer in die Knie als Bonn vor 15 Jahren, auch wenn seine Wirtschaft nach Berechnungen der Bank of Korea 33-mal so groß ist wie die des Nordens.

Genau deshalb wünscht sich in Südkorea kaum einer den Zusammenbruch des Nachbarn und eine schnelle Wiedervereinigung nach deutschem Muster. „Nach 15 Jahren der Trennung kann das Land nicht an einem Tag vereinigt werden“, glaubt deshalb Kim Jong Yoo, Professor am Koreanischen Institut für die nationale Wiedervereinigung. Der „größte Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung“ war für ihn, dass vor dem Mauerfall die politische Logik mehr Gewicht bekommen hätte als die wirtschaftliche. Er führt die hohe Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands und das steile Wohlstandsgefälle in der Bundesrepublik an. Ohne den Schutz der Regierung gingen die nordkoreanischen Betriebe bankrott, und Arbeitslose würden sich auf der Suche nach Jobs in den Süden aufmachen, meint Yoon Deok Ryong vom Institut für Internationale Wirtschaftspolitik.

Ministerpräsident Lee Hae Chan sieht das ebenso. Das Ende Ostdeutschlands habe gezeigt, wie problematisch schnelle politische Veränderungen seien, sagte er im Oktober auf einer Europareise. Sein Land habe „vom Untergang der DDR gelernt, dass ein Zusammenbruch Nordkoreas nicht wünschenswert ist“. Dann formulierte der Premier, was derzeit wichtiger scheint als alle Spekulationen über eine rasche Wiedervereinigung: „Die gemeinsame Haltung ist, dass Nordkorea sein atomares Rüstungsprogramm aufgeben und sich öffnen sollte.“