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Archiv-Artikel

Du sollst dir kein Bild machen

VON CHRISTIAN EGER

Halle an der Saale im September 2003: Die Süddeutsche Zeitung ruft zum Klassentreffen des deutschen Feuilletons. Die „Zukunft der kritischen Öffentlichkeit“ steht zur Debatte, weil die Anzeigenkrise der Branche zu Leibe rückt. Es ist kein Feuilleton-Bundesverband, der sich in Sachsen-Anhalt präsentiert. Die Oberkellner des deutschen Weltanschauungsgewerbes reisen an. Sie klettern aus ihren Fahrzeugen, als seien es Raumschiffe.

Man ist im Osten, aber der findet auf der Tagung nicht statt. Das stört auch niemanden. Die West-Erfahrung, dass ein Kulturteil von zehn auf fünf Seiten schrumpfen kann, ist ja auch eine andere als jene Aussicht, dass die eine Seite im Ostblatt bald noch halbiert werden könnte. Dabei darf man von den Zinnen der West-Publizistik aus die Ost-Regionalblätter etwas murkelig finden, die überregionalen Blätter des Westens sind vor Ort nicht einmal das: Ihre Abo-Zahlen sind verschwindend klein, sie erreichen kaum zehn Prozent des Gesamtmarktes. Als Ausdruck der Krise wird das nicht begriffen.

Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall: Die überregionalen Blätter sind in ihrem Horizont bis heute knallhart westdeutsch geblieben. Und die ostdeutschen Regionalzeitungen – fast alle von westdeutschen Chefs geführt – blicken auf ihre Leser wie mit Kinderaugen: Beißhemmungen, Kumpeleien und Schwamm-drüber-Haltungen inklusive. Der Ostler gilt als Patient, dem wie zu DDR-Zeiten etwas geimpft werden soll: Identität, Geschäftssinn, Glücksgefühl.

Die DDR war – jenseits der Belletristik – eine Gesellschaft ohne öffentlich verhandelte Erfahrung; der Nachwende-Osten ist es in der Tendenz geblieben. So gibt es spätestens seit dem Ende der Wochenpost 1996 kein überregionales Ost-Medium, das deutschlandweit anerkannt als Forum für allgemeine Debatten gelten könnte. Über eine Gesellschaft zum Beispiel, die sich nicht mehr auf Vollbeschäftigung gründen kann. Über ein Bildungsprojekt, das dem Abgang der Industrie folgen könnte. Oder über das selbstbeschränkt „Westdeutsche“ als eine letzte Variante des mentalen Zonentums.

Was es an überregionalen Medien im Osten gibt, wird im Westen nicht ernst genommen; im Osten bewegt es sich in abgeschotteten Milieus. Ein 70er-Jahre-Gemischtwarenladen, in dessen Schaufenster die röhrenden Hirsche von Heimat künden, die kräftig blühen soll. Man ist Ostalgie-Boulevard (SuperIllu), sozialistisches Spektrum (Neues Deutschland und Junge Welt), akademischer Spielplatz (Freitag) oder Wohlfühl-Nische (Magazin). Allein die Berliner Zeitung, ein ehemaliges SED-Blatt, zeigt Ansätze von überregionaler Relevanz.

Wie konnte das passieren? Die Ost-West-Ressentiments von gestern haben heute ihre medien- und marktpolitische Gestalt gefunden. Der westdeutsche Blattmacher wünscht sich im Verein mit dem Leser das ihm fremde Gelände als ein altvertrautes: harmlos, ulkig, porentief rein. Es fehlt an Spiel, Ernst und Witz, recht eigentlich an Toleranz.

Trotzdem bestimmen die im Osten nicht gelesenen Blätter das Selbstbild der neuen Länder. Der Ostler soll sein: staatsgläubig, ungebildet, egoistisch. All die Christiansen-Fragen hallen nach, an denen sich Ost-Leitartikler zyklisch abarbeiten müssen. Will der Osten die Mauer zurück? Gefährden Demonstrationen die Demokratie? Ist der Ostler ein Jammertier? Wäre er nur halb so jämmerlich gewesen, wie er heute gelten soll, kein einziger hätte die DDR überlebt.

Kenntlich ostdeutsche Journalisten sind in den überregionalen Westblättern an einer Hand abzuzählen. Sie stehen in Gefahr, den Berufs-Ossi zu geben. Er bietet entweder den Abrechner oder den Seelsorger von Format, den Besser-Ossi also, der schärfer oder solidarischer ist als der große westdeutsche durch den Osten als Wald-und-Wiesen-Reporter rasende Rest. Doch soll allein der Ostler über den Osten reden? Bitte nicht.

Es gibt aber Missverständnisse, die sich ohne eine physische Kenntnis der Ost-Probleme nicht lösen lassen. Die Freiwilligkeit im DDR-Unfreiwilligen zum Beispiel; es bestand kein Zwang zum Opportunismus. Über die DDR zu reden, als würde eine historische Landschaft für das Gedächtnis nachinszeniert, entbehrt nicht der Komik. Die Erlebensgemeinschaft Ost findet sich wie in Platons berühmter Höhle: Es werden ihr die Erlebnisse und Begriffe von einst als scherenschnittige Suggestionen vor den Augen entlanggezogen. Bereits kleine Ungenauigkeiten wachsen sich schnell ins Monströse aus. Lacher, die am Ende nur Ärger bereiten, sind garantiert.

Gute Unterhaltung also, wenn etwa eine westdeutsche Journalistin das Buch „Klar bin ich eine Ostfrau“ präsentiert. Gute Unterhaltung auch, wenn der Spiegel die Frage „Wofür?“ stellt und die Höhe der Transferzahlungen heillos übertreibt. Von „Ammendorf in Thüringen“ wird geredet, wo das eine legendäre Waggonbauwerk gemeint ist, das in diesem Jahr in Sachsen-Anhalt seine Tore schließt.

Wofür also? Nicht zuletzt dafür, dass jedes wichtigere Amt vom Heimatmuseumsdirektor an bis hin zu nahezu allen Medienposten heute von einem Westler besetzt ist. Das hat Folgen. Die Ost-Ahnungslosigkeit des Westens lähmt – im Zusammenspiel mit der Welttaubheit der ostdeutschen Wende-Kader – die Selbstwahrnehmung stärker als zuvor in vierzig Jahren DDR.

Dabei geht es ja nicht um „den“ Osten, der eine Erfindung des Marktes, der Medien und der Politik ist. Es geht um das Instandsetzen von Erinnerung, das Behaupten von Erfahrung. Um Geschichten und Lebenslesarten, auf die diese Gesellschaft fahrlässig verzichtet. Man würde doch über die DDR, die den Alltag in den neuen Ländern noch auf Jahre grundieren wird, gern einmal unabhängig von Gedenktags-Anlässen reden. Über Ost-Ost-Konflikte nicht zuletzt, an denen der Westen kein Interesse hat.

So wie sich die West- über die Ost-Öffentlichkeit schiebt, bleibt eine vitale und selbstbewusste Ost-Szenerie im Osten ohne Echo. Es geht nicht nur um Dresden, Jena, Leipzig. In Halle zum Beispiel, das viel zu lange als gesamtdeutsches Schreckensbild zu dienen hatte, ist seit Jahren ein ost-west-deutsches Jungbürgertum auf dem Weg. Das schafft sich seine Medien selbst.

Einmal im Monat legt die Künstlerin Karoline Rigaud selbst verlegte Büchlein in der Stadt aus – Hefte, die Auszüge aus Schriften bieten wie Paul Lafargues „Recht auf Faulheit“ oder Nietzsches „Antichrist“. Hier setzt sich eine Öffentlichkeit selbst auf die Spur, die auf „Bevölkerungs“-Therapien nicht wartet. Auch nicht mehr auf ostdeutsche Journalisten, die sich – kaum dass sie untereinander die Weltdinge geklärt haben – übers Bier hinweg zusprechen: Man müsste endlich eine eigene Zeitung gründen.

CHRISTIAN EGER, 38, ist Kulturredakteur bei der Mitteldeutschen Zeitung in Halle. Von ihm ist eben das Buch „Mein kurzer Sommer der Ostalgie: Ein Abspann“ im Verlag Janos Stekovics erschienen