Editorial: Der Osten übernimmt die taz

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser!

Osten? Welcher Osten? Der Mauerfall ist 15 Jahre her. Ist es nicht längst an der Zeit, das dumme Ost-West-Spiel auf den Kompost der Geschichte zu entsorgen?

Schön wär’s. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Die sind komplizierter, gebrochener, uneindeutiger. Wo die einen die angebliche Mauer in den Köpfen als Chimäre abtun, beharren die anderen auf der Realität eines gespaltenen Landes.

Grund genug für die taz herauszufinden, auf welcher Betriebstemperatur das deutsch-deutsche Verhältnis kocht. Ob es ihn noch gibt, den spezifisch-biografischen Blick auf das Land und die Welt, der Ossis und Wessis unterscheidet. Dazu haben wir die Redaktion in fremde Hände gelegt. In Ost-Hände. Einer guten Tradition folgend, bestimmten einen Tag lang Gäste das Gesicht und den Inhalt der Zeitung. Zum Jahrestag des Mauerfalls sind es ausschließlich Menschen mit Ostbiografie, die die taz machten. Motto: „Labor Ost – 15 Jahre neues Deutschland“. 50 PolitikerInnen, KünstlerInnen und JournalistInnen haben als AutorInnen mitgewirkt und sind als Gäste ins Haus gekommen. Sie haben eine Redaktion gegründet, die Schreibtische, Monitore und den Kaffeeautomaten erobert und einen Tag lang ihre taz produziert. Ein besonderes Produkt für einen besonderen Tag. Und apropos: Sie haben natürlich auch eine Chefredaktion bestimmt. Wolfgang Schütze war Interims-taz-Chef und hat jetzt das Wort.

Bascha Mika, taz-Chefredakteurin

Auch von mir Guten Tag,

liebe Leserinnen und Leser!

Die tageszeitung darf sich ruhig etwas einbilden. Sie hat sich zu diesem 9. November, einem der Schicksalstage in Deutschland, etwas Besonderes einfallen lassen: eine Zeitung nur von Ossis.

Wie meistens, so stieß auch diese Idee nicht gleich auf grenzenlose Begeisterung: Was soll da stattfinden, eine Art ostdeutscher Zoo, sorgte sich einer aus der angepeilten Zielgruppe. Dürfen also wieder nur Frauen über Frauen und Sioux-Indianer über Sioux-Indianer schreiben, fragte ein anderer.

Am Ende siegte die Lust am Experiment. Allerdings: Auch eine Sonder-taz an einem historischen Tag ist nur eine Zeitung. Eine historische Ausgabe für alle Ewigkeit hatten wir nicht im Sinn, und sie wäre in der Kürze der Vorbereitungs- und Produktionszeit auch nicht zu stemmen gewesen. Nicht mal von Ossis, die zum Teil seit vielen Jahren länger arbeiten und deshalb ganz entspannt sagen können: Her mit der 40-Stunden-Woche, da sind wir viel eher zu Hause.

Die taz wünschte sich den „ostdeutschen Blick“ auf die Dinge. Bekommen hat sie den „anderen Blick“. Denn den ostdeutschen Blick gibt es nicht, lässt man den Vorteil, zwei Systeme im Kopf zu haben, mal außer Acht. Ostdeutsche, Journalisten allzumal, sind so uneinheitlich wie Westdeutsche. Die immer wiederkehrenden Debatten leiden ja gerade an einem Zuviel an Pauschalisierung und einem Zuwenig an Differenzierung und Individualität.

Ost und West müssen mehr voneinander wissen. Die großen Themen wie Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung, terroristische Bedrohungen, Sozialsysteme, Demografie usw. sind keine Ost- oder West-Themen, sondern beschäftigen die Menschen im ganzen Land und darüber hinaus. Deshalb gibt es auch in der heutigen Sonder-taz den Blick von außen, aus Polen beispielsweise und gar aus Fernost, aus Korea.

Ganz ohne Wessis geht die Chose nicht, auch nicht diese Zeitung. Wie groß mein Dank ist, mag man daran ermessen, dass ich jetzt sogar die taz-korrekte Schreibe von den KollegInnen benutze, die mir sonst albern erscheint, obwohl ich selbstverständlich nichts gegen Kolleginnen habe. Also, im Namen der Ossis: Noch mal Danke. Wir hatten gestern nicht das Gefühl, die neuen „Lieblingsfeinde“ der Redaktion zu sein.

Wolfgang Schütze, taz-Chefredakteur für einen Tag