: Freie Fahrt nur 100 Jahre
Betriebsrentner der Vestischen Straßenbahnen ziehen gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber vor Gericht, weil der ihnen ein über hundertjähriges Privileg wegnehmen will: Freie Fahrt auf Lebenszeit
VON KLAUS JANSEN
Die Betriebsrentner der Vestischen Straßenbahn GmbH im nördlichen Ruhrgebiet kämpfen um freie Fahrt auf Lebenszeit für sich und ihre Familien. Weil ihr Arbeitgeber das seit der Gründung des Verkehrsbetriebs im Jahr 1901 gültige Privileg aufgekündigt hat, sind nun über 300 ehemalige Straßenbahner vor Gericht gezogen.
Heinz Walther hat sein Freiticket für das komplette Gebiet des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr bereits zurück erhalten. Von 1945 bis 1988 hat der mittlerweile 76-jährige Pensionär für die Vestische gearbeitet, er hat den Rentnerprotest organisiert – und im Juli in einem ersten Pilotprozess Recht bekommen. Die Vestische hätte nicht begründen können, weshalb man das Ticket einziehen müsse, urteilten die Richter am Arbeitsgericht Herne. „Es geht nicht nur um die Finanzen, es geht ums Prinzip“, sagt Widerständler Walther. Kein anderes nordrhein-westfälisches Verkehrsunternehmen gehe an die Freifahrten für Betriebsrentner heran. „Jahrzehnte haben die Leute für weniger Geld gearbeitet, weil sie sich darauf verlassen haben, ein Leben lang umsonst zu fahren“, sagt Walther. Dieses Privileg fordern er und seine Kollegen nun ein.
Bei der Vestischen herrscht jedoch nicht Nostalgie, sondern das Diktat der Bilanz. Auf 18 Millionen Euro Defizit hat es der Verkehrsbetrieb im vergangenen Geschäftsjahr gebracht. Würden nun alle Rentner reguläre Tickets kaufen, bedeute das Mehreinnahmen von 1,4 Millionen Euro pro Jahr, rechnet das Unternehmen vor.
„Wir müssen eben sparen, auch unsere Mitarbeiter verzichten auf bis zu 30 Prozent Lohn“, sagt Unternehmenssprecher Reimund Kreutzberg. Schließlich befinde sich die Vestische in einem „schwierigen Restrukturierungsprozess.“ Die Schuld an der Finanzmisere trägt das Unternehmen jedoch größtenteils selbst: Weil Rentnertickets als Fahrausweise für Schwerbehinderte angegeben wurden, fordert das Land 4,5 Millionen Euro zu viel gezahlte Zuschüsse zurück – der Landesrechnungshof hatte den Fall in seinem Jahresbericht 2004 aufgedeckt. „Die Rückzahlungen haben mit dem Einzug der Tickets unmittelbar nichts zu tun“, sagt allerdings Firmensprecher Kreutzberg.
Die Rentner sehen das anders: „Die Strafe für die Vestische wird nun uns aufgebürdet“, sagt Heinz Walther. Sein Fall wird nun in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Hamm verhandelt, für die übrigen Beschäftigten will das Arbeitsgericht Herne bis Januar eine Musterentscheidung fällen. Rechtsanwältin Sabine Hetterscheidt, Vertreterin der über 300 aufgebrachten Pensionäre, rechnet mit einem Sieg – für das Verhalten der Vestischen hat sie wenig Verständnis: „Normalerweise spart man doch zuerst bei den Ausgaben. Die Rentner kosten doch nichts, wenn sie im Bus sitzen“, sagt sie. Für die Zeit von März bis November, in der die Rentner auf ihre Tickets verzichten mussten, will sie Schadenersatz fordern: 81 Euro für jeden Rentner pro Monat.
Die Geschäftsführung der Vestischen will den juristischen Streit zu Ende führen, doch nicht alle Unternehmensvertreter sind sich noch sicher, ob der Ertrag der Einsparungen den Ärger mit den Rentnern überhaupt rechtfertigt. „Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, warum sich die Geschäftsführer das antun“, seufzt ein leitender Mitarbeiter.