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Archiv-Artikel

Der liebe Krankmacher

Wider die politisch korrekte Heuchelei: Jakob Arjouni hat mit „Hausaufgaben“ seinen bislang reifsten Roman geschrieben

VON JOCHEN FÖRSTER

Joachim Linde hat’s echt nicht leicht. Ehefrau Ingrid ist offenbar ein hysterisches Wrack und gerade mal wieder in der Klinik, Sohn Pablo, 19, hat Erfolg bei Amnesty International, dafür noch bei keiner Frau, und Tochter Martina, 18, ist nach einem Selbstmordversuch Richtung Italien abgehauen, zu einem Foodfotografen in Mailand. Zum Schulleiter hat’s Linde auch nicht gebracht, den Job macht jetzt Kollege Bruns, Zyniker und Junggeselle, der sich nachts mit 19-jährigen „Jeremys“ vergnügt. Was für eine ungerechte Welt.

Und das ist erst der Anfang. Donnerstag, Deutschstunde Oberstufe, Thema „Einfluss des Dritten Reichs auf euer Leben heute“, doch Linde hat vor allem das verlängerte Wochenende im Kopf, in zwei Stunden will er nach Brandenburg fahren und dort durch die Mark wandern, endlich mal frei, endlich mal allein. Dann kippt ihm die Stunde um. Eine Schülerin erklärt, die Eltern eines Mitschülers seien Nazis; der erwidert, sie hätte man gleich mit vergasen sollen. Linde droht mit Konsequenzen – doch von nun an kriegt nur noch er auf die Mütze. Zunächst von der Mutter der verunglimpften Schülerin, dann buchstäblich vom Freund der Tochter und vom Sohn, schließlich aufs Bösartigste von seiner Frau. Und während sich das Wochenende zu Lindes persönlichem Familienfiasko entwickelt, erfahren wir, wie wenig leicht es die anderen haben mit Joachim Linde.

Die fehlende Scheu vor plakativen Plots, starken Typen, Karikaturen der Bürgerlichkeit zählt seit je zu Jakob Arjounis größten Qualitäten. Gepaart mit seiner unbedingten Fähigkeit zu klarem, unterhaltsamem Schreiben, ist das schon eine Menge, sprich sehr selten. Seine insgesamt vier Kemal-Kayankaya-Krimis – „Happy Birthday, Türke“ machte ihn 1985 schlagartig bekannt – zeichnete das aus, auch seinen Berlin-Roman „Magic Hoffmann“ sowie seine letztjährige Kurzgeschichten-Sammlung „Idioten“. Im karg besetzten Segment „junge deutsche Literatur mit Biss und Haltung“ können da allenfalls Wolfgang Herrndorf, Joachim Lottmann (o. k., der ist fast 50) und, in guten Jahren, Helmut Krausser mithalten.

Das Tolle ist: Arjouni wird immer besser. Dass „Hausaufgaben“ sein bestes Buch ist, hat vor allem drei Gründe. Erstens gibt er sich konzeptionell mehr Mühe – „Hausaufgaben“ ist auf klassische Weise durchkomponiert, ganz und gar dramatisch. Zweitens der Gegenstand: War es anfangs vor allem rechter Pöbel, hat es Arjouni inzwischen linkes Spießertum angetan – das erhöht die Fallhöhe, da kennt er sich besser aus, kann er weit feiner ziselieren. Und drittens wählt er die passende Perspektive – Arjouni führt die Welt Joachim Lindes aus dessen Sicht vor, wenngleich in der dritten Person. Das erzeugt die nötige Grunddistanz, aber auch Nähe, wann immer die Linde-Figur ins Klischee zu entgleiten droht.

Die Linde-Figur, der Plot lässt es erahnen, ist vom Typ her ganz und gar Pädagoge. Wilde Studienzeiten hinter sich, viel rumgehurt, dann Familie gegründet, klare Prinzipien, aufgeklärte Standpunkte, für Freiheit und Lebenslust, doziert gern über gesellschaftliche Missstände, dabei immer noch auf Zack, eigentlich alles richtig gemacht, denkt er. Seine Tochter nannte ihn schon als Kleinkind „Joachim“, und in der Freizeit schreibt er sorgenvolle Leserbriefe zur Wirkung von Computerspielen. Und nun, als alle gegen ihn sind, ihn seine Tochter der sexuellen Annäherung bezichtigt, sein Sohn ihm fast die Nase bricht und seine Frau das Kollegium gegen ihn aufheizt, der sich vermeintlich an seiner Tochter vergangen hat, fragt er sich, während er das Gefühl hat, „als liefe ihm durch ein kleines Loch der Kopf aus“, wie es so weit kommen konnte, und einige Seiten empfindet man tatsächlich Mitleid.

Natürlich ist es nicht so einfach, und natürlich ist Linde nicht schuldig, zumindest nicht im engeren Sinne. Seine Frau ist tatsächlich hysterisch, sein Sohn nach außen politisch korrekt, geht dafür nachts in den Puff und hört heimlich Howard Carpendale, und was ihm seine Tochter als unverzeihliche Perversion vorhält, war ein unglücklicher Zufall – beim Zelturlaub in Frankreich war Linde mit Morgenlatte nackt ins Meer gehüpft und dabei zufällig über Martina gestolpert, zumindest stellt er es so dar, und etwas ist wohl daran.

Dennoch ist Linde vor allem eins: zur Gänze selbstgerecht. Einer, dessen politisch korrekte Heuchelei derart routiniert ist, dass er sie nicht mal mehr selbst bemerkt. Er, Linde, mag diesmal Opfer sein, doch auf lange Sicht, dies legt der Roman auf meisterlich dezente Weise nahe, ist er an der Familiensituation weit weniger unbeteiligt, als er wahrhaben will. Er, dem unangenehm auffällt, wie sich seine Frau im Satzbau verheddert, wenn sie mal wieder einen Wutanfall kriegt. Der lügt aus Angeberei. Lebensfreude nur demonstriert. Der viel notgeiler ist, als er tut, wenn er, moderner Erzieher, der er ist, seiner Tochter rät: „Anfassen geht, in den Mund nehmen ohne Kondom geht nicht.“ Und der bei alldem fest daran glaubt, dem Rest der Welt überlegen und zur Erziehung berufen zu sein. Lehrer Linde hat sie krank gemacht, sie alle, und er merkt es nicht.

Jakob Arjouni ist eine brillante Innenansicht pädagogischer Uneigentlichkeit gelungen, sein relevantester Roman und sein feinster. Wer je ein erziehungswissenschaftliches Seminar besuchte und dabei nicht den Verstand verlor, wird dieses Buch verschlingen.

Jakob Arjouni: „Hausaufgaben“. Diogenes Verlag, Zürich 2004, 190 Seiten, 17,90 Euro