Das Konfliktparallelogramm

Wenn migrantisches Traditionsbewusstsein auf katholische Vorgestrigkeit trifft: Ken Loachs neuer Film „Just a Kiss“

Zu Beginn gibt es einen Elektroschock für einen pinkelnden Hund. Ein pakistanischer Ladenbesitzer hat seine Werbetafel auf dem Bürgersteig unter Strom gesetzt, der Hund wird schmerzhaft bestraft. Darauf folgt eine flammende Rede von Tahara, der Tochter des Ladenbesitzers, vor ihren Mitschülern, gegen rassistische Klischees und Vereinfachungen.

Dann die große Liebe, die unter den Druck der Verhältnisse gerät: Casim, der Bruder von Tahara, verliebt sich in Roisin, ihre irische Musiklehrerin. Was nicht sein darf, sagen seine Eltern, die Casim mit einer ihm noch unbekannten pakistanische Braut verheiraten wollen. Was nicht sein darf, sagt die katholische Schule, die von Roisin die Versicherung verlangt, nicht in einer wilden Ehe zu leben.

Also ein Melodram, Romeo und Julia in Glasgow. Vom Scherz mit dem elektrisierten Hund zum Ernst von Immigrantenkonflikten gelangt man schnell bei Ken Loach, und das war immer schon ein Reiz seiner Filme, deren Herz links schlägt und dank ihres Sinns für Humor am rechten Fleck sitzt.

Die gelungensten Werke von Ken Loach sind Milieustudien, denen ein kleiner Plot implantiert wird, die Sache mit dem Kommunionskleid („Raining Stones“), die Fürsorge des Fußballtrainers für seinen drogensüchtigen Schützling („My Name is Joe“), nichts Weltbewegendes, dafür ein genaues Sensorium fürs Detail im Leben der britischen working class. In den letzten Jahren hat Loach dann ein paar Ausflüge in die Weltgeschichte unternommen, nach Amerika, nach Nicaragua, das war nicht immer geglückt, weil im Blick aufs große politische Ganze die scharfe Einstellung auf die Mikrobeobachtung verloren zu gehen drohte.

Nun herrscht in „Just a Kiss“ (eine Umdichtung des Originaltitels „Ae Fond Kiss“, der sich auf ein leitmotivisch gesungenes Robert-Burns-Lied bezieht) kein Mangel an Aufmerksamkeit fürs Milieu, in dem er spielt. Die Verwerfungen zwischen pakistanischer Tradition und den Usancen der britischen Gesellschaft werden in verschiedensten Aspekten und Effekten durchdekliniert. Die Tochter, die akademischen Ehrgeiz hat. Die andere Tochter, die durch Casims Liebe zur blonden Irin ihren Ehemann zu verlieren droht. Partys mit indischer Musik, die Liebe zu den Eltern, die Doppelmoral der muslimischen Männer und der katholischen Kirche, Rassismus und die beinahe unlösbaren Assimilationsschwierigkeiten der zweiten Einwanderergeneration.

All das wird durchaus stimmig dargestellt, tatsächlich geht auch der melodramatische Kern der Liebesgeschichte zu Herzen. Loach erzählt hier mit einiger Delikatesse, seine beiden Hauptdarsteller Eva Birthistle und Atta Yaqub verleihen den Konflikten, die sie verkörpern, sympathische und glaubwürdige Gestalt. Leider aber sind sie zuletzt eben nicht viel mehr als das: Verkörperung von Konflikten. Noch in den wunderbar selbstverständlich gefilmten Sexszenen werden, halb im Scherz, halb im Ernst, Herkunftsdifferenzen ausgehandelt. Nichts gegen die These, dass im Privatesten noch das Politische steckt. Nur steckt in den Figuren zuletzt gar nichts mehr, das nicht auf das Konfliktparallelogramm, in das der Film sie zwingt, verrechenbar wäre.

Gerade im Bemühen um Genauigkeit aber, das man spürt, besteht das Problem. Zu viel war offenbar abzuwägen. So muss der Einwandererproblematik eine Geschichte um katholische Vorgestrigkeit gegenübergestellt werden. Die Assimilationsanstrengungen und die Beharrungskräfte der Tradition werden an den Töchtern in verschiedenen Abstufungen durchgespielt. Für die notwendige Verlogenheit von Casims Liebe findet der Film ein schönes Bild: An jedem Kiosk, den ein Verwandter von Casim besitzt, muss Roisin sich bei der Vorbeifahrt im Auto ducken. Doch ist das, was gelingt, immer nur gelungene Umsetzung eines ausgedachten Konflikts. Die Stärke des Films und vor allem seiner Darsteller ist, dass sie es schaffen, einem am Reißbrett entworfenen Problem Leben einzuhauchen. Seine Schwäche bleibt, dass das abstrakte Problem als Vorgabe nie hinter dem lebendig Erzählten verschwindet und ihm so jedes Eigenleben verweigert. Dabei fing es so schön an, mit einem elektrisierten Hund, der nichts zur Sache tut. EKKEHARD KNÖRER

„Just a Kiss“. Regie: Ken Loach. Mit Atta Yaqub, Eva Birthistle u. a. GB/D/I/E2004, 103 Min.