Die Spurlose

„Du hast ein so großes Bedürfnis nach Nähe, wie ein Hündchen, das alles dafür gibt, dass man es streichelt“

AUS BERLIN UTA ANDRESEN

Manchmal, wenn ihre Arbeitswoche schon am Mittwochmittag vorbei ist und sie wieder einmal genug hat von diesem Zuviel an Toleranz, auf die sie angewiesen ist, und diesem Zuwenig an Rechten, die sie wohl auch vergessen kann, dann setzt sie sich in ein Café und spielt Normalität. Zum Beispiel in der Roten Harfe, in Kreuzberg. Seit den 70er-, 80er-Jahren nun wirklich kein angesagter Treff mehr. Ein Ort, an dem ergraute Langhaarige zwischen Türken und Griechen ein Bier auf die guten alten, weil politischen Zeiten trinken. Und damit ein guter Ort für sie. Sie fällt nicht auf. Trotzdem setzt sie sich ans Fenster, nahe der Tür.

Eine gepflegte Erscheinung, 42 Jahre, schwarze Haare, schwarze Brille, in der Designer-Schultertasche ein Aktenordner. Jenny, diesen Namen benutzt sie gegenüber Fremden, setzt sich niemals mitten in die Menge. Es könnte ja Polizei kommen, wie neulich, als sie sich eine lateinamerikanische Transvestitenshow angesehen hat. „Da bin ich Hals über Kopf raus, dabei kamen die nur wegen der Lautstärke.“ Alle fünf Minuten vergewissert sie sich, dass ihr Wohnungsschlüssel und ihre Monatskarte für die U-Bahn noch da sind. Schlüsseldienst und eine neue Karte? Abgesehen davon, dass sie schlecht nachweisen kann, dass sie in ihrer Wohnung auch wohnhaft ist, würde das mehr kosten, als sie im Monat verdient. Bei Jenny ist die Normalität ein nervöser Zustand.

Wie so ein Leben wohl sein muss? 1994 kam sie mit einem Touristenvisum aus Argentinien nach Berlin, reiste zunächst immer wieder aus und ein. Die Methode war teuer, sie wäre vermutlich auch bald aufgefallen, also ließ sie das Visum irgendwann auslaufen. Eine Verwegenheit für eine wie sie, ausgerechnet Lehrerin, so etwas wie ein Vorbild also. Nur leider fand sie keinen Job zu Hause, und damit nahm diese Geschichte wohl ihren Anfang.

Was muss in einer Frau vorgehen, dass sie ihre beiden Kinder, 12 und 13 Jahre alt, bei ihrem Exmann zurücklässt und in Deutschland ihr Glück versucht, und das auch noch illegal? Wobei illegal ein Wort ist, das Jenny nicht gern hört. Ein Wort, von dem sie sagt, dass es sie zu einer Kriminellen stempelt. Dabei sei ihr Leben hier alles andere als kriminell, eher schon kreuzbrav.

In ihren ersten drei Monaten in Berlin redete Jenny sich noch ein: „In einem Jahr bin ich wieder zu Hause.“ Wie sie auf die Idee kam, in Deutschland könne man so schnell so reich werden, dass es für ein Familienleben in Argentinien genügt, weiß Jenny auch nicht. Aber dass Sparen nicht drin war, nicht bei den Jobs, die sie bekam, lernte sie schnell.

Wie bei diesem Ehepaar. Der Job, schlecht genug bezahlt, Putzen, Waschen, Kochen, Bügeln, von 7 bis 19 Uhr, jeden Tag, für 3,50 Euro die Stunde, sollte nicht gerade das sein, was die Anzeige versprach. Und das Paar hatte so einiges versprochen. Dass es eine Stunde Mittagspause geben würde – stattdessen wurde sie nonstop durch die Wohnung geschickt, kurz hinsetzen und ein Glas Wasser trinken war nicht. Und dass es leichte Hausarbeit sein würde – statt dessen war jeden Tag Großreinemachen angesagt. „Zwei Monate am Stück hielt ich das durch, dann wurde ich krank“, sagt Jenny, den Job als Perle konnte sie da natürlich vergessen.

Sozialversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld, vorgeschriebene Pausen am Arbeitsplatz? Alles Vokabeln aus einer schönen, neuen Arbeitswelt, für jemanden wie Jenny. In ihrer Welt gilt: Wer zahlt, hat Recht. Etwa eine Million Menschen arbeiten nach diesem Prinzip in Deutschland – die Zahl der Illegalen ist geschätzt, welche Behörde sollte auch eine offizielle Statistik errechnen können?

Wer zahlt, hat Recht. Und wer keine Papiere hat, beugt sich. Eine Freundin von Jenny hält für 22 Euro die Nacht Wache am Bett einer schwer kranken Frau. Die nächste wurde aufgefordert, nackt zu putzen, auf Rollschuhen. Eine andere wurde von dem Familienvater, dem sie die Kinder hütete, vergewaltigt und flog zurück nach Chile. Aber wer geht schon wegen einer Hand voll Euro oder einer Hand auf dem Hinterteil zur Polizei und riskiert damit seine Abschiebung? In ihren besten Zeiten verdiente Jenny in der Woche 150 Euro für putzen, Kranke pflegen oder babysitten, vier Stunden am Tag, jeden Tag bei einer anderen Familie. „Bei den Summen lohnt sich Protest nicht.“

Überhaupt, sagt Jenny, lernt man so einiges. „Vor ein paar Jahren musste ich ins Krankenhaus, Stressmagen.“ Und das war dann erst einmal Stress. Ohne die Chipkarte einer deutschen Freundin hätte sie das Geschwür wohl noch heute. Dass das Versicherungsbetrug ist? Jenny schnauft, als drücke der Magen noch immer. „Ich würde ja gern Krankenkasse und Steuern zahlen“, sagt sie dann. Und wühlt erst einmal in ihrer großen Tasche nach der Handarbeit, die sie immer dabei hat. Eine reichlich abstrakte Stickerei. Außer ein paar Kakteen sind nur bunte, fließende Formen zu erkennen. „Das soll an die Arbeitsmigrantinnen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze erinnern, die haufenweise umgebracht werden. Ist für eine Ausstellung.“

Vor drei Jahren, ihr Freund Ramon, Asylbewerber aus Kuba, musste das Land verlassen, stieß Jenny zu dieser Gruppe von Latinas, die, anstatt Flugblätter zu schreiben, grellbunte Arpilleras, Wandbilder, sticken. Eine Form des politischen Protests, die während der chilenischen Diktatur entstand. „Mir wurde klar, dass meine kaputte Liebe nicht mein persönliches Schicksal war. Rundherum sah ich plötzlich Beziehungen, die vor die Hunde gingen, weil die Leute keine Papiere haben.“ Seitdem stickt Jenny, als würde ihr jeder Stich Ramon zurückbringen. Eine Boeing der Lufthansa ist auf einem Wandbild zu sehen, „Deportation Class“ in den strahlendblauen Himmel gestickt, Abschiebeklasse. Ein anderes, ganz im Stil naiver Malerei, zeigt das Abschiebegefängnis Grünau, vor dem sich sechs Figuren in olivfarbenen Overalls mit bedrohlich erhobenen Armen einer Gruppe von Frauen in bunten Kleidern nähern. Anstelle der Gesichter der Frauen klafft jeweils ein großes Loch. „Mujeres sin rostro“ – Frauen ohne Gesicht nennen sich die illegalen Hausmädchen selbst. Zur ersten Ausstellung schrieben sie: „Dies ist unsere Form des Protests, da es uns die Situation nicht erlaubt, frei zu handeln, und wir unsere Gesichter verbergen und im Untergrund leben müssen.“

Ja, der Untergrund, sagt Jenny. Ihr Handy klingelt, sie prüft die Nummer, schaltet es aus. In den vergangenen drei Wochen hat sie es gar nicht erst angeschaltet – eine Bekannte wurde in der U-Bahn ohne Fahrkarte erwischt. Das war’s. Abschiebehaft, das Handy der Frau wurde konfisziert. „Darin war meine Nummer gespeichert.“ Die Zeit danach war anstrengend, sagt Jenny. Spontane Verabredungen? Unmöglich. Eine Stunde später zum Putzen kommen? Die Nachricht hätte sie nicht erreicht. Ein Handy ist verdammt wichtig. Und sich mal eben eine neue Nummer holen? Wie denn, ohne Pass? Dieses hier, für das sie sich nur eine neue Karte besorgen muss, wenn die alte leer ist, hat eine deutsche Freundin für sie gekauft.

Eigentlich ist sie Lehrerin, aber in Argentinien fand sie keinen Job. Nun ist sie Perle. Putzen, Waschen, Bügeln

„Es ist ein anderes Leben in diesem Land, eine Parallelwelt“, sagt Jenny. Auf jeden Fall eine wenig glamouröse, eine Welt, die mit gefälschten Pässen, gefärbten Haaren, Gesichtsoperationen und was das Kino sonst noch so hergibt an gangsterhaften Vorstellungen von einem Leben im Untergrund, wenig zu tun hat. Jennys Welt ist eine, in der es keine Post gibt, es sei denn, du hast einen Freund, dessen Adresse du angeben kannst. „Ich schreibe nie.“ Als es diese billigen Telefonläden noch nicht gab, sagt Jenny, stand sie mit 50-Mark-Karten in einer Telefonzelle, bis ihr die Beine einschliefen. Jennys Welt ist eine, in der du stets korrekt sein, dich gut kleiden und auf keinen Fall Radfahren solltest. „Erst hab’ ich mir ein Rad besorgt, ist ja viel billiger“, sagt Jenny, „aber dann wurden die Polizeikontrollen immer häufiger“. Sie verkaufte das Fahrrad.

Alles in allem ist Jennys Welt eine, in der gilt: Du brauchst Kontakte, Kontakte, Kontakte. Du brauchst jemanden, der dir Jobs vermittelt, denn die Suche über Anzeigen ist mühsam – und riskant. „Die meisten Jobs finde ich über deutsche Freunde, da stecken dann nicht Polizisten oder Spinner dahinter“, sagt Jenny. Und du brauchst jemanden, der dir einen Vermieter nennt, der nicht nach deinem Ausweis fragt. Jenny hat in Deutschland noch nie in einer selbst gemieteten Wohnung gelebt. In einem Abrisshaus im Ostteil Berlins ohne Treppengeländer, Strom und Gas, ja. Zu viert in einem Zimmer auch. Aber in einer eigenen Wohnung? „Wer würde von einer wie mir eine Kaution akzeptieren?“ Im Moment lebt sie im properen Reinickendorf, in einer Vierer-Wohngemeinschaft. Überhaupt sei eine WG der beste Schutz gegen die Neugier der Nachbarn. Und wer es trotzdem genau wissen will, dem sagt sie, sie sei mit einem Deutschen verheiratet, lebe aber getrennt.

Ruhiges Wohnen – es war nicht immer so. Etwa als dieser Latino sie bat, ob er nicht für einige Nächte bei ihr bleiben könne. Er müsse aus seiner Wohnung raus. Sie sagte zu. Aus den paar Nächten wurden Wochen, es gab Streit, der Mann drohte, sie an die Polizei zu verraten. Jenny regelte den Konflikt auf ihre Art. Sie suchte sich, so schnell es ging, ein neues Zimmer und hat seitdem noch eine Regel für ihr Leben aufgestellt: „Je weniger Menschen von deiner Existenz wissen, umso besser.“

Was dieses Leben mit einem macht? „Du hast ein so großes Bedürfnis nach Nähe, wie ein Hündchen, das alles dafür gibt, dass man es streichelt“, sagt Jenny. Und als Hündchen bewegt man sich kaum je auf Augenhöhe mit anderen. Im Grunde, sagt der Migrationsexperte Klaus Bade von der Universität Osnabrück, „ist der Illegale ein überangepasster Mensch“. Wer auffällt, hat verloren.

Das musste Jenny vor drei Jahren auch erfahren. Sechs Jahre arbeitete sie bereits in Deutschland, ging jeden Monat zur Western Union – die interessiert sich nicht für die Identität des Kunden, Hauptsache, er zahlt die Überweisungsgebühren –, schickte ihren beiden Kindern, wenn es gut lief, bis zu 250 Euro. Doch dann gab es in dem Restaurant, in dem sie putzte, eine Razzia. Irgendjemand musste der Polizei einen Tipp gegeben haben. „Zwei Wochen saß ich in Grünau, dann wurde ich abgeschoben.“ Über diese Zeit und ihre Rückkehr nach Deutschland will Jenny nicht reden: Sie, die Lehrerin, im Knast, das muss man sich mal vorstellen!