piwik no script img

Archiv-Artikel

Jenseits der Schrankwand

Ikea hat zur Zivilisierung des Landes weitaus mehr beigetragen als jedes politische Pamphlet. Heute eröffnet im Zentrum Berlins die größte Filiale des Landes. Das Möbelhaus hat seine Mission vollendet

aus Berlin RALPH BOLLMANN

Dem Blick ins türkische Wohnzimmer kann dieser Tage keiner ausweichen. Ein goldgerahmtes Stillleben an der Wand, ein Häkeldeckchen auf dem Tisch, eine Stehlampe mit Bommeln neben der Kommode – in diesem biederen Ambiente präsentiert sich seit Wochen eine fünfköpfige Familie auf den hauptstädtischen Plakatwänden. Nur in einem winzigen Detail geriet die Darstellung nicht lebensecht. Die dunkle Haarfarbe der Neuberliner verwandelte sich auf dem Foto in skandinavisches Blond.

Das Plakat lässt keinen Zweifel übrig: Jetzt rücken die Schweden ins Herz der Hauptstadt vor. Der Ikea-Konzern, mit seinen rund 30 deutschen Filialen bislang nur auf der grünen Wiese vertreten, eröffnet heute Früh um acht ein Möbelhaus mitten in Berlin. Mit 37.000 Quadratmetern, der Fläche von 400 geräumigen Dreizimmerwohnungen, ist es zugleich das größte Ikea-Haus in Deutschland – und eines der größten weltweit, nennenswert übertroffen nur von der Filiale im heimischen Stockholm.

So erfolgreich wie in der Bundesrepublik ist Ikea in keinem anderen Land. 1974 eröffnete der Konzern aus dem schwedischen Älmhult seine erste deutsche Filiale in Eching bei München. Es folgte ein beispielloser Siegeszug, der zur Zivilisierung des Landes weitaus mehr beitrug als jedes politische Pamphlet. Die Schweden haben ganzen Generationen von Bundesbürgern dazu verholfen, sich vom Trauma der eichenen Schrankwand im elterlichen Wohnzimmer zu befreien. Zwar hatte der Befreier selbst, Ikea-Gründer Ingvar Kamprad, einst mit den Nazis sympathisiert – aber das soll, wie wir in diesen Tagen aufs Neue erfahren, auch bei anderen Exponenten der demokratischen Emanzipation vorgekommen sein.

Vor 23 Jahren veröffentlichte die Fotografin Herlinde Koelbl einen Bildband mit dem schlichten Titel „Das deutsche Wohnzimmer“. Es ist ein beklemmendes Dokument bundesdeutscher Wohnkultur in jener trüben Ära, als sich Ikea noch nicht durchgesetzt hatte. Da zwängen sich viel zu große Polstergarnituren in viel zu enge Räume, da sind die Kissen mit einem Handkantenschlag sorgsam arrangiert. Untersetzer schützen das Tischfurnier vor hässlichen Flecken, und die Kinder schauen so verlegen in die Kamera, als sähen sie ihre Zukunft vom massigen Schrankelement für alle Zeiten versperrt.

Äußerte der Nachwuchs in jenen trüben Zeiten den Wunsch nach Befreiung, machte er damit alles nur noch schlimmer. Die Eltern schleppten den Sohn oder die Tochter ins nahe gelegene Möbelhaus, um ein „Jugendzimmer“ auszuwählen. Das geschah unter den wachsamen Augen eines „Einrichtungsberaters“, dessen bloßes Auftreten jedes Vertrauen in seine ästhetische Kompetenz ruinierte. (Auch der schwedische H-&-M-Konzern hatte Deutschland noch nicht beglückt.)

Die Eltern wussten sehr genau, dass sich hinter der Kritik an den Möbeln die Rebellion gegen eine ganze Lebensform verbarg. Nur deshalb zogen die Besitzer der Schrankwände mit solcher Inbrunst über die „Apfelsinenkisten“ her, mit denen sich die jüngere Generation den nötigen Freiraum für ein mobileres Leben verschaffte. Während Ikea in anderen Ländern mit belanglosen Slogans wirbt („Einrichtung zum kleinen Preis“), brachte der Konzern seine spezifisch deutsche Mission auf eine kongeniale Formel: „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Mit der heutigen Ankunft mitten im Zentrum hat der Konzern seinen Kreuzzug gegen die „Exzesse der organisierten Gemütlichkeit“, von denen der Psychologe Alexander Mitscherlich einst sprach, allerdings vollendet. Heute wagen sich selbst die Schrankwandbesitzer in die Filialen der Schweden, und wenn nicht alles täuscht, entwickelt auch die neue Ikea-Leitkultur Züge der Spießigkeit.

Um jene kompakte kleinbürgerliche Welt heraufzubeschwören, aus dem das skandinavische Möbelhaus den Deutschen einst heraushalf, muss die Berliner Werbekampagne schon das Milieu der türkischen Einwanderer zitieren. Als hätten die Schweden erst endgültig gesiegt, wenn Ikea auch hier noch der Durchbruch gelingt.