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Archiv-Artikel

Zwei Welten – eine Razzia

AUS SCHWEDTMISCHA EHRHARDT

Die Männer hausen seit drei Monaten in einem Plattenbau in Schwedt an der Oder, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohnern im äußersten Nordosten Brandenburgs. Der Plattensilo ist zehn Stockwerke hoch, fünfzig Fenster lang. Das Gebäude soll bald abgerissen werden. Die Gänge sind leer, die Türen geschlossen. Nichts weist darauf hin, dass hier Menschen leben; wer hier wohnt, braucht wenig Komfort. Der Plattenbau ist ein Lagerplatz für die Nomaden der Neuzeit – eine Gruppe von Monteuren aus Kroatien.

Sie sind eine „Familie“, so nennen sie sich. Die Männerfamilie zählt 44 Köpfe, den größten hat Viktor*. Bei der Kontrolle auf einer Baustelle in Belgien ist ihm einmal der Helm runtergefallen, weil er zu klein war für ihn. Er wurde von den Polizisten dazu verdonnert, einen Helm in Sondergröße zu bestellen. Polizeikontrollen hat Viktor schon in vielen Ländern erlebt. Als Monteur hat er in den vergangenen zwanzig Jahren in sieben Ländern gearbeitet. Er spricht Kroatisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und so viel Russisch, dass er sich verständigen kann.

In einer Zweiraumwohnung sitzt Viktor auf einem Klappstuhl. Es ist Feierabend. Auf Viktors Knien liegt ein Haufen Fotos. Das war in Italien, sagt er, beugt sich vor und zeigt ein Foto von der Altstadt in Savona. „Es war schöner als hier“ und hält schon das nächste Foto in der Hand: Viktor und sein Mitbewohner mit einem Bier in der Hand in einer kleinen Küche, der Tisch gedeckt. „Da hatten wir zu zweit eine Wohnung, die größer war als dieses Loch.“

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker von Viktor um sechs. Kurz vor sieben startet er mit dreißig anderen Monteuren. Wie immer wird Viktor gute zehn Stunden schweißen, sägen und schrauben. Anders als sonst wird er heute zwei Stunden Pause haben, weil der Zoll auf der Baustelle nach Schwarzarbeitern sucht.

Als Viktor aufsteht, verlässt der Zollfahnder Joachim Reitz* bereits sein Berliner Büro, um sich – mit einem Helm unter dem Arm – nach Schwedt aufzumachen. Zwei Welten kommen sich unaufhaltsam näher. In der Welt des Amtsgebietsleiters Reitz sind die Tatsachen so geordnet wie sein Büro: ein Schrank, ein Schreibtisch, darauf vier Akten, säuberlich geschichtet. Auf dem Schrank liegen zwei Dienstmützen – eine blaue und eine grüne. Mit ihren Kokarden scheinen sie das Zimmer zu überblicken. „Machen wir uns doch nichts vor“, sagt Reitz gern, wenn er über Schwarzarbeit redet. Er ist seit 15 Jahren beim Zoll beschäftigt, seit Anfang des Jahres nennt sich die Behörde „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“.

Routinierte Abschreckung

Reitz fährt heute zur Großrazzia – einer „Routinemaßnahme“, wie er sagt, zur Abschreckung. Drei Stunden später ist er bei der Einsatzbesprechung in einer alten Lagerhalle auf dem Gelände des Zolls in Schwedt. Hinter einem Gabelstapler und ein paar Holzpaletten steht ein Schreibtisch, ein aufgeklappter Laptop darauf und ein Projektor. Gewöhnlich wird die Lagerhalle nicht mehr genutzt. Doch im Zollamt gegenüber sind die Räume zu klein für solche Einsätze. 160 Zollbeamte schauen auf die Stirnwand. Einige haben schusssichere Westen an, tragen die Waffe im Holster, den Schlagstock im Gurt. Daneben baumeln Stablampen wie Keulen.

An der Wand ist nun ein Wirrwarr aus schwarzen Linien projiziert, Rechtecke und Kreise auf weißem Grund – der Bebauungsplan des Fabrikgeländes. Der Einsatzleiter erklärt seinen Fahndern, wie die Razzia auf der Baustelle ablaufen soll. Die „Zielobjekte“ leuchten rostbraun. Sie heißen A, B und C und stehen auf dem Werksgelände der Leipa Papierfabrik in Schwedt.

Viktor und seine Kollegen arbeiten in der Fabrikhalle, die Reitz seit der Einsatzbesprechung am Morgen „Zielobjekt B“ nennt. Dort verlegen sie Rohrleitungen, einige dicker als Litfaßsäulen. Es riecht nach Beton, Staub und verbranntem Metall. Gleichmäßig stehen graue Betonpfeiler, silbrige Metallrohre ziehen sich herauf bis fast zur Decke und münden in ein Labyrinth aus Luftschächten, Rohren und Kabeln. Halbfertige Maschinen, überdimensionale Kessel und Silos stehen herum, Kabelrollen, groß wie Traktorräder. Arbeiter schweißen, bohren, hämmern, lackieren – bis der Konvoi aus 50 Einsatzfahrzeugen und 160 Beamten an den Werkstoren ankommt.

Überall stehen die Zollfahnder, kontrollieren Pässe, prüfen Ausweise, fragen nach Krankenversicherungen und wollen wissen, was die Bauarbeiter verdienen. Ausländer müssen Arbeitserlaubnis oder Werksverträge vorweisen. Die Beamten notieren alle Angaben auf vorgedruckten Bogen.

Der Kroate Branko* trägt am linken Handgelenk schon ein gelbes Plastikband – das heißt so viel wie: „kontrolliert, darf sich frei bewegen“. Branko ist für die Monteure so etwas wie Vorarbeiter, Dolmetscher und Büroangestellter in einem. Jetzt antwortet er auf alle Fragen der Beamten. 48 Stunden arbeiteten die Monteure pro Woche. Aber dafür gebe es manchmal Urlaub, sagt Branko. Ein paar Beamte stehen daneben, einige grinsen – vor allem, als er über den Urlaub spricht, der die 48-Stunden-Woche ausgleichen soll.

Mit den Verträgen dieser Monteure ist alles in Ordnung. Was nicht in ihnen steht: Wie viele Stunden sie wirklich arbeiten. Zehn Stunden dauert ein Arbeitstag mindestens, manchmal über zwölf Stunden, einziger freier Tag ist der Sonntag. Leute wie Viktor verdienen etwa fünf Euro pro Stunde. Das ist illegal, denn vorgeschrieben ist im Osten Deutschlands ein Mindestlohn von knapp zehn Euro. Für alle ist das ein lohnendes Geschäft: Die Firma, die die Monteure entsendet, kassiert einen Teil des Gehalts ihrer Arbeiter, und die verdienen mit dem restlichen Geld besser als in der Heimat.

Halbwahre Antworten

Die Fahnder wissen von diesen Dingen. Und sie wissen, dass sie dagegen kaum etwas tun können. Sie stellen ihre Fragen und notieren die halbwahren Antworten. Am Ende der Razzia stehen zwei bosnische Männer neben einem Einsatzfahrzeug. Sie sprechen kein Wort miteinander. Ihnen gegenüber steht der wohl jüngste Fahnder des Einsatzes. Die Hände in den Taschen, lässt er die beiden nicht aus den Augen. „Es ist nichts Gravierendes“, meint der Einsatzleiter. „Denen fehlt bloß eine Kleinigkeit im Visum. Sie können das problemlos legalisieren und dann wieder in Deutschland arbeiten.“ Was der Einsatz kostet, lässt sich schwer schätzen. Ein Fahnder kostet im Jahr etwa 50.000 Euro.

Viktor schüttelt den Kopf, als er hört, was die Fahnder kosten. „Deutschland ist verrückt“, sagt er. „Alles wird teurer, die Leute immer ärmer, und die werfen das Geld zum Fenster raus.“ Er sagt, natürlich haben die meisten auf der Baustelle Verträge. Und natürlich sage den Polizisten keiner, wie lang er wirklich arbeitet, also könnten sich die Polizisten ihre Fragerei auch sparen, meint er. Zu seinem eigenen Lohn sagt er: „Es ist nicht viel, aber mehr als in der Heimat.“

Dort arbeitet seine Frau in einer Kleiderfabrik, doch das Geld reicht nicht, die Ausbildung der beiden Söhne zu finanzieren. Oft sieht Viktor seine Familie nicht: alle ein bis zwei Monate – wenn er in Deutschland arbeitet. Als er in Russland war, hat er sie über drei Monate nicht gesehen. Die Monteure schuften für das Leben nach der Montage und für das Leben daheim. Die meisten von ihnen haben Frau und Kinder in der Heimat, während sie von Baustelle zu Baustelle tingeln und von Land zu Land. Immer für ein paar Monate, mit dem Bauprojekt wird die Stadt gewechselt.

Zwei Welten bewohnen die Monteure: die Arbeitswelt, die keine Grenzen kennt, und die Heimat, die umgrenzt ist durch Haus und Familie. Sie existiert auf Bildern, lebt in den Erinnerungen und den Erzählungen darüber und schlängelt sich durch die Gespräche wie ein nie endendes Seemannsgarn. „Zu Hause, du musst uns zu Hause besuchen“, sagt Viktor oft.

Es fällt bei einigen der Männer schwer, sie sich als Familienväter vorzustellen. Sie schwärmen zu oft und zu sehr von ihrem Leben: „Monteure halten immer zusammen. Monteure sind keine Freunde, sie sind Brüder, eine Familie“, sagen sie. Eine Männerfamilie, an Zeit und Ort einer Baustelle gebunden; später verlieren sie sich oft wieder aus den Augen. Die Männer trauern der Familie in der Heimat nach. Doch ist es für viele von ihnen nicht allein das Geld, das sie ins Nomadenleben lockt: „Wenn man Monteur ist, dann ist man verrückt auf Montage“, meint Branko, der heute von den Fahndern kontrolliert wurde. „Wer Monteur ist, der ist Monteur fürs Leben.“ Viktor weiß noch nicht, wo er demnächst sein wird. Wenn es nach ihm ginge, würde er gern mal wieder nach Madrid ziehen. Doch darauf hat er keinen Einfluss. Wahrscheinlich wird er zwischendurch einen Abstecher nach Kroatien machen, zu seiner Frau und den beiden Söhnen. Doch dann sagt er: „Ich kenne viele meiner Kollegen längst besser als die eigene Familie.“

* alle Namen geändert