: Besetzt, nicht befriedet
Das US-Militär hat Falludscha, die Hochburg des Widerstands, erobert – die Kontrolle darüber hat es aber nicht
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
Es sind die wilden Katzen und Hunde, die neben den US-Marines die westirakische Stadt Falludscha zurückerobert haben. Die Tiere machen sich über die herumliegenden Leichen her, während die US-Soldaten die Stadt von Haus zu Haus durchkämmen, auf der Suche nach verbliebenen Aufständischen und deren Waffenlagern.
„Falludscha ist besetzt, aber noch nicht befriedet“, lautet die offizielle vorsichtige Version der US-Armee, während die Zurückeroberung der Hochburg der irakischen Aufständischen in die zweite Woche geht. Kommt es im Süden der Stadt immer noch zu sporadischen kleinen Gefechten, können sich die US-Marines im Rest der Geisterstadt aus Angst vor Scharfschützen nur mit größter Vorsicht bewegen. So gehört der Abtransport der irakischen Leichen nicht zu ihrer Priorität.
Nach Angaben des Militärs sollen 1.200 Aufständische, 38 US-Soldaten und sechs irakische Soldaten ums Leben gekommen sein. Über die Zahl der Toten unter den Zivilisten werden indes keinerlei Angaben gemacht.
Hamid hat Glück gehabt, wie es ein mit der US-Armee eingebetteter Reporter der amerikanischen Tageszeitung Christian Science Monitor beschreibt. Der verängstigte Iraker folgte den über der Stadt abgeworfenen Flugblättern und durch Lautsprecher gegebenen Anweisungen, dass Zivilisten die beste Überlebenschance haben, wenn sie in ihren Häusern bleiben oder sich mit einer weißen Fahne ergeben. Er wurde von den Marines zu Boden gerungen, als er mit der weißen Fahne aus seinem Haus kam, und in Plastikhandschellen gelegt. In seiner Tasche fand sich ein von Hamids Vater in Englisch geschriebener Brief, in dem es heißt, dass der Rest der Familie geflüchtet sei und Hamid zurückgelassen wurde, um das Haus zu bewachen. „Ich hoffe, Sie behandeln meinen Sohn gut, sollten Sie auf ihn stoßen“, lautet die schriftliche Bitte des Vaters. Als Hamid schließlich acht Stunden später verhört wurde, erklärte er, dass ihm Essen und Wasser ausgegangen seien und sein verzweifelter Nachbar sich ebenfalls ergeben möchte. „Wenn das ein Hinterhalt ist und er lügt und irgendein Amerikaner zu Schaden kommt, werde ich ihn erschießen“, erklärte Sergeant Richard Fryar dem Übersetzer. „Wir müssen sie alle zunächst als Aufständische behandeln, wir können niemandem trauen“, rechtfertigt er sich. Die Geschichte erwies sich am Ende als wahr. Hamid wurde an den Rand der Stadt eskortiert. Mit nicht abwaschbarer Farbe wurde ihm das Wort „freigelassen“ auf den Arm gepinselt. Dann wurde er weggeschickt.
Unterdessen kam US-Stabschef General Richard B. Myers aus Washington und der Chef des Zentralkommandos General John P. Abizaid aus dem regionalen Hauptquartier in Katar in den Irak geflogen, um sich dort mit den örtlichen Kommandeuren über die weitere Vorgehensweise zu beraten. Möglicherweise ist ein ähnlicher Angriff wie auf Falludscha auf das benachbarte Ramadi geplant. „Die Aufständischen sind wie Wasser, man drückt sie und sie fließen davon“, beschreibt Abizaid anschließend die Lage. Tatsächlich ist Falludscha zwar erobert, aber im Rest des sunnitischen Dreiecks hat sich die Sicherheitslage enorm verschärft. Nördlich von Bagdad stürmten Aufständische am Montag den 40.000 Einwohner zählenden Ort Buhris und übernahmen dort die Kontrolle. Zur gleichen Zeit brachen im unmittelbar benachbarten Bakuba heftige Gefechte zwischen US-Soldaten und Rebellen aus. In Samarra, der Stadt, die bereits vor sechs Wochen von den Aufständischen zurückerobert worden war, herrscht inzwischen wieder eine Ausgangssperre. Am Wochenende hat dort der letzte erst vor wenigen Wochen eingesetzte irakische Polizeichef erneut das Handtuch geworfen.
Und auch an der politischen Front brennt es. Iraks Vizepremier Barham Salih hat nun erstmals angedeutet, dass der für Januar angesetzte Wahltermin möglicherweise nicht mehr zu halten ist. „Wenn sich die Zeit nähert, müssen sich die irakische Regierung, die UNO und die unabhängige Wahlkommission zusammensetzen, um Lage zu beurteilen“, sagte er. Erste politische Schadensmeldungen in Folge der Schlacht um Falludscha kommen auch von Teilen der von Sunniten dominierten Parteien. Der einflussreiche Verband muslimischer Rechtsgelehrter rief jetzt zum Boykott der Wahlen auf. Die Irakisch-Islamische Partei hat bereits vor Tagen mit dem Industrieminister ihren Vertreter aus dem Kabinett des Ministerpräsidenten Ajad Allawi abgezogen.
So mag die taktische Schlacht um Falludscha nahezu gewonnen sein und die Rebellen haben ihre wichtigste Hochburg verloren. Die weitere strategische Schlacht, der Regierung in Bagdad durch Wahlen Glaubwürdigkeit und Legitimität zu verleihen, ist alles andere als vorüber.