familie tschüs lässt grüßen von WIGLAF DROSTE
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Nun springen sie wieder. Es ist November, an den Bahnstrecken stehen die Selbstmörder. Sehnsuchtsvoll starren sie auf schnelle Züge, die durchs Land zischen. Doch nicht Fernweh lässt sie träumen. Sie wollen nirgendwo mehr ankommen; was ihre Augen glänzen lässt, ist die Aussicht auf einen schnellen, preisgünstigen Tod.

Ganz oben in den Charts stehen bei Familie Tschüs die ICE-Strecken; da, wo die Züge richtig Fahrt aufnehmen, stirbt es sich offenbar am besten. Einige Springplätze sind so stark frequentiert, dass Automaten aufgestellt werden mussten; hier muss der Selbstmordkandidat eine Nummer ziehen und darf sich erst vor den Zug werfen, wenn er dran ist. Vordrängler machen sich auch hier unbeliebt. In diesem Punkt sind Selbstmörder wie alle anderen auch: Bitte immer schön der Reihe nach, Extrawürste werden für niemanden gebraten, alles muss seine Ordnung haben. Dass einer vom Stamme Spring ist, gibt ihm noch lange nicht das Recht, aus der Reihe zu tanzen und den Anarcho raushängen zu lassen.

In der Warteschlange vertreibt man sich die Zeit, so gut man kann. Zwar gibt es auch hier die ewigen Nörgler, Miesmacher, die sich von der Gruppe isolieren, autistisch vor sich hin brüten und schlechte Laune verbreiten. Geselligere Charaktere haben Campingstühle und Kühltaschen mitgebracht und stärken sich mit Wurstbroten und Pils. Jovial werden Schnitzel und Klappstullen angeboten, schier aus dem Nichts bilden sich Skat- und Doppelkopfrunden, in der Ersten Klasse gibt es Champagner und kalten Fasan. Das Restleben bis zur Durchfahrt des letzten Zuges kann man sich doch schön machen – das ist alles eine Frage der inneren Einstellung.

Wenn der Andrang groß ist und die Zeit sehr lang wird, entstehen sogar Bekanntschaften. Manche stellen sich einander mit Vornamen vor, zügig geht man zum vertraulichen Du über, aber das ist wie bei anderen anonymen Grüpplern auch: So viele Andreasse, Kläuse und Jürgens kann es eigentlich gar nicht geben, da sind vor lauter Schamhaftigkeit wohl falsche Namen im Spiel. Schade – man muss die Welt doch nicht mit einer Lüge auf den Lippen verlassen.

Wer an der Reihe ist, geht, ganz nach individuellem Temperament, still und leise oder verabschiedet sich herzlich. Hände werden geschüttelt, Schultern geklopft, manch aufmunterndes Wort wird gesprochen: „Mach’s gut“, „Einer geht noch“, „Hau rein ist Tango“; sensiblere Naturen bevorzugen das klassisch-stilvolle „Adieu“. Dann tritt der Kandidat ans Gleis und konzentriert sich wie ein Hundertmeterläufer beim olympischen Finale. „Kevin, spring nicht!“, ruft einer dazwischen – der als „Kevin“ Angesprochene dreht sich verärgert um. „War nur Spaß!“, lenkt der Rufer ein, aber damit kommt der Klassenclown nicht durch. Er wird wegen unfairen Verhaltens disqualifiziert und für eine Woche gesperrt.

Ja, sie sind ein mopsfideles, allseits beliebtes Häufchen, unsere Selbstmörder. Nur wir Lokomotivführer können sie nicht ausstehen. Das war einmal ein Traumberuf, Lokführer – schick mit Uniform und Mützchen durchs Leben gondeln und alles ganz gelassen sehn. Aber im November nimmt der Lokführer besser Urlaub. Sonst sieht er rot.