: Die Stimme der Zeugen
Die französische Autorin Soazig Aaron hat mit „Klaras Nein“ einen fiktiven Auschwitz-Roman geschrieben, dessen großen Steinbruch die Bücher von Ruth Klüger oder Imre Kertész bilden
von FRITZ VON KLINGGRÄFF
„Alles, was ich tue, besteht darin, ihr zuzuhören“. Seit Klara von „dort unten“, aus Auschwitz, zurückgekehrt ist, seit Donnerstag, den 26. Juli 1945, notiert Angelika in ihrem Tagebuch, was Klara erzählt. Nicht alles. Manches unterschlägt sie; manche Reflexion, manche Erinnerung fügt sie hinzu. So entsteht vor dem Leser fragmentarisch und dünnhäutig das Bild bildungsbürgerlicher Resistenz im Paris der Kriegs- und Nachkriegszeit: Zwei junge Frauen, Deutsche, durch die Nazis in ihr Judentum gestoßen, überleben in der vorsichtigen Obhut zweier Pariser Familien. Doch der Schein trügt: Die Stimme von Klara erzählt deutlich und autoritär eine andere Wahrheit: Auschwitz.
Akribisch und mit erschreckender Empathie bereitet die französische Autorin Soazig Aaron in den unerbittlichen Berichten Klaras die Zeugenliteratur der Vernichtungs- und Konzentrationslager auf. „Klaras Nein“ ist ein Auschwitz-Roman. Ruth Klüger oder Imre Kertész bilden den Steinbruch für Klaras Erzählungen. Doch der literarische Handstreich einer Tagebuch-Erzählung aus dem Jahr 45 gibt „Klaras Nein“ die Möglichkeit, den Status des Originals für sich zu reklamieren. „Klaras Nein“ also ist ziemlich tricky. Klara spricht von der „Hölle“ Auschwitz. Sie spricht von der Ermordung der Babys, vom Sterben der Kinder, der Freundinnen, vom Sterben der Würde in Auschwitz. Sie erzählt Geschichten: vom Knaben, der vor den Kapos verborgen und (fast) gerettet wird. Vom arischen Vater der Halbjüdin Klara, der Goethe liebt und als Obersturmbannführer die Vernichtungslager bereist. Vom Ende der Philosophie und dem Überleben der Poesie. Dies alles sind Topoi einer langen Reihe literarischer Ereignisse, die mit Robert Antelme begann und mit Jorge Sempruns „Der Tote, der meinen Namen trug“ noch nicht (ganz) aufgehört hat. Klara nimmt diesen Reflexionsgegenstand Auschwitz aus der Literatur der Überlebenden verdichtet auf und erzählt ihn wieder: „Ich habe meine Muttersprache als Hure benutzt […] ich trieb sie vor mir her, ließ sie mit dem Arsch wackeln, ja so vulgär, guck mich nicht so an, sagte ich ihr jedes Mal, komm, du Schlampe, komm den SS-Typ anmachen, du wirst ihn schon einwickeln, den SS, solche Geschichten.“ So beginnt der sechzigjährige Reflexionsgegenstand Auschwitz wie zum ersten Mal aus der ursprünglichen Erzählung heraus zu sprechen. „Das ist Oświęcim.“ Noch das Bilderverbot der Shoah wird so zum Zitat: „So wie ich bin, könnte ich in einem Film keinen Muselmann darstellen. Ich bin fett, alle ehemaligen Häftlinge fänden das zum Lachen. Eins steht fest. Kein Film wird dieser Gruppe je gerecht werden. Nie.“ Klara ist Zeitzeugin, authentischer als jeder Film und jeder Überlebende es je sein könnte. Denn Klara ist ein Geist. Überlebtes Leben wie sie das Werk Sempruns, Kertész’ prägen, ist nicht ihr Ding. Ihrer Ghostwriterin Lika erscheint sie für wenige Wochen – um dann für immer zu verschwinden. Keine zwei Monate nach ihrer Ankunft reist sie ab.
S
o wird aus Erinnerungsarbeit Empathie, selbst tragende Wahrheit – vergleichbar mit Binjamin Wilkomirskis Fälschung „Bruchstücke“. Artistischer, aber vergleichbar. Im Namen Klaras bricht die Geschichte „Auschwitz“ im Jahr 1945 ab, gerinnt zu archäologischem Material, das von seiner Autorin nur gehoben zu werden braucht. Ihrem Adoptivsohn im Lager, dem verstummten Kind, gibt Klara den Namen „Uli“. Kurz vor der Befreiung verlöscht er, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Ihr eigener Vater, Ulrich Adler, schreitet in Auschwitz an Klara vorbei – aus Scham spricht sie kein einziges Wort. In diesem sprachlosen Spiel der Namen zeigt sich die Erzählung „Le Non de Klara“ gnadenlos autoritär, wird zur Kolportage um des Effektes willen.
In Frankreich antwortete Jorge Semprun dieser neuen Stimme mit einer zugleich hymnischen und prophetischen Rezension, die der deutschen Erzählung leicht modifiziert als Vorwort vorangestellt ist: „Wir können ruhig sterben: Unsere Stimme, die Stimme der Zeugen, wird in dieser wunderbaren Fiktion weitergegeben und bewahrt“, schreibt Semprun, der Spanienkämpfer, der Buchenwaldhäftling, und gibt der Fiktion seinen Segen: „Merci Klara.“ Doch dies ist ein Irrtum. Soazig Aaron schreibt die vielfältigen Stimmen der Überlebenden nicht weiter. Sie hebt sie auf. In ihrer endgültigen Kopie.
Soazig Aaron, „Klaras Nein“. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, mit einem Vorwort von Jorge Semprun, Friedenauer Presse, Berlin 2003, 196 Seiten, 19,50 €