piwik no script img

Archiv-Artikel

Like ice in the sunshine

Auf Fototour in den Schweizer Alpen: Mit alten Postkarten in der Hand von Gletscher zu Gletscher, um jedes Foto noch einmal aus der gleichen Perspektive heute zu machen. Eine Dokumentation des Gletscherschwunds und der Klimaveränderung

Bei den Gletschern geht es nur noch darum, festzustellen, wie sie verschwinden

VON THOMAS PAMPUCH

Der Ort ist ein Gedicht in Arve und Lärche – ein richtiger Zauberwald, ganz sicher einer der schönsten Wälder der Alpen. Ihm zu Füßen ein Gletscher, der aussieht wie eine gigantische dreispurige Landebahn für Riesenflugsaurier. Und darüber eine viktorianische Luxusvilla, die wie kaum etwas anderes geeignet ist, über hundert Jahre Tradition Alpentourismus der feinen Sorte zu repräsentieren. Was wiederum den schweizerischen Naturschutzbund Pro Natura bewog, sich in die 1902 gebaute „Villa Cassel“ einzuquartieren und dort ein überaus informatives Zentrum zu betreiben. Selbst die Unesco hat diese Gegend so beeindruckt, dass sie 2001 das Gebiet rund um den Aletschgletscher 2001 zum ersten „Weltnaturerbe“ der Alpen erklärte. „Ice wie keis“ heißt bislang noch der Werbespruch des Schweizer Fremdenverkehrsamtes für den Aletsch.

Eis wie keines? Die Frage ist, wie lange noch. Denn zum Genuss dieser Bergwelt mit Eis gehört heute auch ein gewisses Maß an Wehmut. Gletscher, sagt Sylvia Hamberger, wirkten auf sie oft wie riesengroße Tiere: müde und dem Tod geweiht. Schaut man aus dem herrlichen Aletschwald tief hinunter auf den riesigen Aletschgletscher – mit 23 Kilometer Länge immer noch der längste der Alpen –, ahnt man, was die Münchner Biologin meint. Wirklich verstehen aber wird man sie erst, wenn sie einen Packen alter bis uralter Postkarten hervorzieht. Guckt man dann genau hin und vergleicht, so wird man feststellen, dass es den Gletschern, egal ob Aletsch oder Rhone, Stein oder Titlis, ausgesprochen dreckig geht. Sie schwinden dahin wie Schnee an der Sonne.

Es lohnt sich, mit Sylvia Hamberger in die Alpen zu reisen. Die Münchnerin ist – zusammen mit Wolfgang Zängl – Mitbegründerin der Gesellschaft für ökologische Forschung e. V., die seit nunmehr 26 Jahren flächendeckend ökologische Aufklärung betreibt. Die Ausstellungsklassiker „Grün kaputt“ „Alptraum Auto“, „Sein oder Nichtsein“ hat Hamberger wesentlich mitgestaltet. In einer über die Jahre perfektionierten Mischung aus Fotodokumentation und lakonischen Texten haben die Münchner Ökologen die industrielle Zerstörung der Natur massenwirksam vorgeführt – die Bücher zu den Ausstellungen stehen heute in jedem halbwegs ökologiebewussten Haushalt. In den vergangenen Jahren konzentrierten sich die Münchner immer mehr auf die Alpen, was 1998 zu ihrer bisher letzten großen Ausstellung, „Schöne neue Alpen“, führte. Schon dort war vom Abtauen der Gletscher die Rede. Seitdem sammelten die Mitglieder des Ökoteams systematisch historische Gletscheraufnahmen. Und seit mehreren Jahren ziehen sie mit den alten Postkarten in der Hand jeden Sommer, sobald das Wetter schön ist, von Gletscher zu Gletscher, um jedes Foto noch einmal zu machen.

Eine solche Fototour ist ein bisschen wie Schatzsuche mit alten Karten. Die genaue Stelle zu finden, wo vor manchmal über 80 bis 100 Jahren der Fotograf stand, ist oft mühevoll und zeitraubend. Verlangt werden das Auge eines Landvermessers und viel Gefühl für Perspektive und ihre Verschiebungen. Manchmal könnte man schwören, es seien in der Zwischenzeit neue Gipfel aufgetaucht – um dann irgendwann festzustellen, dass man sie mit ein paar Schritten in die richtige Richtung wieder verschwinden lassen kann. Häuser aber, Hotels, Kirchen, und Wälder können in hundert Jahren wirklich auftauchen oder verschwinden. Bei den Gletschern allerdings geht es nur noch darum, festzustellen, wie schnell sie verschwinden. Das zu dokumentieren ist der Zweck der Arbeit, und dabei kommt es auf jeden Meter und deshalb auf den genauen Standpunkt an. Da ist Sylvia Hamberger unerbittlich. Ein Tänzchen mit der Geschichte, das die Fotografin mit ihren Postkarten in der einen und der Kamera in der anderen Hand aufführt. Und das Tänzchen ist erst beendet, wenn alle topografischen Linien von heute mit denen der alten Fotos exakt übereinstimmen.

Tausende von Fotos sind so entstanden. Einige ausgewählte Vergleichsbilder kann man bereits im Netz unter www.gletscher archiv.de/ zu besichtigen. Dort kann man sich auch über die wichtigsten Erkenntnisse der Gletscherforschung informieren: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehen die Alpengletscher mit immer größerer Geschwindigkeit zurück. Die meisten von ihnen haben von 1850 bis 1975 etwa ein Drittel ihrer Fläche und mehr als die Hälfte ihres Volumens verloren und seitdem noch einmal 20 bis 30 Prozent. Die Prognosen für das 21. Jahrhundert sind dementsprechend alarmierend.

Wie alarmierend, das wird zum Beispiel am Rhonegletscher deutlich. Gleich hinter dem Furkapass treffen wir auf das urige Hotel Belvedere, das seinen Namen zu Recht trägt. Direkt neben dem Gletscher errichtet, aus dem die Rhone entspringt, guckt das ehrwürdige Gebäude in luftiger Lage nicht nur auf den Gletscher selbst, sondern auch auf das grandiose Tal, in das er sich einst hinabwälzte. Wo jetzt die Wasser des Gletschers über nackten Fels hinunterrauschen, waren es vor einigen Jahrzehnten noch die riesigen Gletschermassen selbst, die bis hinab ins Tal reichten. Im 19. Jahrhundert – auch das ist dokumentiert – füllte der Gletscher sogar noch ein gut Teil des Tales aus, und es wurden sogar Kreuze errichtet, weil man seine weitere Ausdehnung befürchtete. Heute lappt der Gletscher gerade mal über die Kante vor dem Steilabfall – wie eine gut gemeinte Scheibe Wurst über ein Stück Brot. Dabei ist der Rhonegletscher immer noch beeindruckend.

Wer will, kann sogar in ihn hineingehen und das wunderbare, bläulich schimmernde Licht im Innern bewundern. Der kunstvoll gehauene und hübsch beleuchtete Stollen im Eis muss freilich alle paar Jahre weiter nach hinten verlegt werden, so schnell taut der Gletscher ab.

Mit dem von Greenpeace unterstützten Projekt des Gletscherarchivs, das im nächsten April auch in einer großen Ausstellung und einem Katalog präsentiert werden soll, hat sich die Gesellschaft für ökologische Forschung einen der wichtigsten Indikatoren für Klimaänderungen vorgenommen: Gletscher gelten sowohl als „Gedächtnis der Klimageschichte“ wie auch als „globale Fieberthermometer“. Die Bewegungen des Eises entsprechen dabei denen der Quecksilbersäule, nur umgekehrt: Rückgang des Eises bedeutet erhöhte Temperatur des Patienten. Und die Krankheit, die das schnelle Abschmelzen der Gletscher und das Auftauen des Permafrosts signalisieren, gefährdet nicht nur die Alpen selbst, sondern den Planeten insgesamt.

Die Bilder, die Sylvia Hamberger und die anderen Fotografen des Teams im Wallis und an vielen anderen Orten machen, sind so faszinierend wie niederschmetternd. Wo sich früher riesige Eismassen türmten, findet man heute oft nur noch nackten Fels und riesige Schuttareale. Die Folgen für das Alpengebiet sind absehbar unabsehbar. Immer häufigere Muren, Bergstürze und Erdrutsche lassen erahnen, was auf uns zukommt, wenn die weltweite Klimaerwärmung weiter so zunimmt wie bisher.

Je nach Anstieg der Treibhausgase wird die globale Erwärmung in den nächsten hundert Jahren auf 1,4 bis 5,8 Grad geschätzt, wobei in Bergregionen die Erwärmung häufig weitaus größer ist als im Durchschnitt. In der Schweiz etwa war der Temperaturanstieg in den letzten 30 Jahren dreimal so hoch wie im globalen Mittel.

Die Freude an den uralten Arven und Lärchen im Aletschwald, an den fantastischen Moränen des Gletschers und überhaupt an der großartigen Kulisse der Walliser Alpen ist etwas Sinnliches, genau wie die Sorge, dass es damit vorbei sein kann. Genau das empfindet man, wenn man die alten und neuen Gletscherfotos sieht. Wenn es mit dem CO2-Ausstoß weitergeht wie bisher, droht drei Vierteln aller Alpengletscher bis zur Mitte dieses Jahrhunderts das Aus. Das hieße dann auch für den Aletsch: Ice gibt’s keis.