: „Wir brauchen viel, viel mehr Gelassenheit“, sagt Daniel Cohn-Bendit
Die multikulturelle Gesellschaft wird derzeit – mit Fingerzeig auf Holland – mal wieder beerdigt. Das ist ein Fehler
taz: Herr Cohn-Bendit, wie finden Sie die deutsche Debatte seit dem Mord an van Gogh?
Daniel Cohn-Bendit: Wirr. Es ist eine Cowboydiskussion. Jeder schießt mal aus der Hüfte.
Christian Ströbele hat mit der Idee eines islamischen Feiertags einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Auch ein Schuss aus der Hüfte?
Ja. Mich als Atheisten stören diese religiösen Feiertage sowieso. Wieso also noch einen? Ich glaube, Ströbele hat eine plakative Idee gesucht. Aber es geht im Moment nicht darum, neue Kampffelder zu eröffnen. Es geht um Versachlichung. Die ganze Debatte macht den Eindruck, als wäre der Mord an van Gogh bei uns passiert. Keine Spur von Gelassenheit. Dabei muss man sich doch anschauen, was genau in Holland passiert ist.
Nämlich?
Der Mord an Theo van Gogh ist ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit. Van Gogh war ein Provokateur in einer Art, die sogar mich vor Scham hat erröten lassen. Und das will was heißen. Er hat Muslime grundsätzlich als fünfte Kolonne der Ziegenficker bezeichnet. Er hat den Amsterdamer Bürgermeister mit klar antisemitischen Konnotationen angegriffen. Er hat dem linken Grünen Paul Rosenmöller gewünscht, an Hirnkrebs zu sterben, und gesagt, dass er auf sein Grab pissen wird. Okay, so etwas gehört zu einer freien Gesellschaft. Aber was in Holland fehlte, war eine Auseinandersetzung. Die Neigung, Konflikten aus dem Weg zu gehen, hat in Holland Tradition – auch was die Befassung mit der Kollaboration mit den Nazis angeht. Anstelle dessen: Alles ist möglich, im Übrigen lebt man nebeneinander her. Dieses Modell, das eher indifferent als tolerant ist, ist gescheitert.
Viele fürchten, dass so eine Tat auch bei uns jederzeit möglich ist. Stimmt das?
Komplizierte Frage. Es gibt bei uns mehr Debatten, mehr Auseinandersetzung. Aber: Schauen wir den Mörder an. Er hat die doppelte Staatsangehörigkeit, er spricht fließend Arabisch und Holländisch, ist kein sozialer Außenseiter. Also jemand, der den Grünen und Beckstein gefallen müsste. Dann wurde er von Islamisten rekrutiert. Das heißt: Seine Tat hat nichts damit zu tun, dass er nicht integriert war. Die Tat ist von Ereignissen geprägt, die nichts mit Holland zu tun haben. Wir können uns also in einer globalisierten Welt nicht abkoppeln – sogar wenn bei uns alles gut laufen sollte.
Momentan wird mal wieder die Multikultigesellschaft zu Grabe getragen. Brauchen wir den Begriff noch?
Ja natürlich. Multikulti ist keine Kitschidee konfliktfreien Zusammenlebens, sondern die Beschreibung der Realität. Was also meint das Gerede vom Ende der Multikultigesellschaft? In der Konsequenz die Rückführung von Millionen Migranten aus Deutschland. Wer die multikulturelle Gesellschaft verabschiedet, ist entweder ein Idiot oder ein Verbrecher.
Na ja, das „Ende von Multikulti“ meint doch eher: mehr Anpassung der Migranten an uns. Auf dieser Linie liegt Annette Schavans Forderung, dass in Moscheen nur noch deutsch gepredigt werden darf.
Frau Schavan sollte sich mal die jüdische Einwanderung in Frankreich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhundert anschauen. Da gab es im Herzen von Paris eine ostjüdische Parallelgesellschaft. Da wurde jiddisch gesprochen. Die Integration war ein ganz langsamer Prozess. Würde Frau Schavan den Juden auch verordnen, in den Synagogen nur auf Deutsch zu predigen? Natürlich nicht. Im Übrigen sollten Verfassungsschutz und Polizei doch in der Lage sein, Arabisch und Türkisch zu verstehen.
Interessant. Jetzt fordert die libertäre Linke den Verfassungsschutz in den Moscheen.
Warum denn nicht? In einer multikulturellen Gesellschaft brauchen wir auch einen multikulturellen Verfassungsschutz. Wenn es den Verdacht gibt, dass in Moscheen Zwangsverheiratungen organisiert werden, dann muss man dem nachgehen. Das ist eine legitime Verteidigung der bedrohten Frauen. Und wenn es bei den Deutschen Ängste gibt, was in den Moscheen passiert, dann ist doch Aufklärung das Beste. Die Linke sollte da nicht zögern. Früher hat sie doch sogar die Idee, dass Migranten Deutsch lernen sollen, teils als Ausdruck reaktionärer Assimilation verstanden. Das war ein Fehler. Ohne Deutsch zu können, werden die Migranten nicht zu Citoyens, nicht zu politischen Subjekten.
Am Sonntag gibt es in Köln eine Demonstration von Muslimen gegen Terror. Haben islamische Gemeinden die Militanz zu lange toleriert?
Ich glaube, ja. Manchen muslimische Gemeinden geht es mit den Militanten so wie der Linken mit der RAF. Es gibt klammheimliche Freude bis hin zur Sympathie mit dem Terror. Anders gesagt: In der islamischen Kultur gibt es einen Kampf der Fundamentalisten um die Hegemonie. Dabei sind wir die Zuschauer, nicht die Akteure. Auch der Katholizismus und das Judentum haben sich von innen her verändert. Das wird beim Islam nicht anders sein. Die Reform kann nur von innen kommen.
Was steht für uns jetzt auf der Agenda?
Die Linke muss die Reste des Sozialarbeiterhaften ablegen.Was soll das Gerede von Dialog mit dem Islam? Das klingt nur nach lieb – und amen. Reden wir von Konflikten. Dazu gehört auch, Polizei und Geheimdienste in Moscheen zu befürworten. Wir müssen unsere liberale Gesellschaft gegen das Projekt des islamischen Fundamentalismus schützen.
Klingt stark nach Otto Schily.
In diesem Punkt – ja. In der Frage, ob der Verbrecher Gaddafi, der für seine Hochschätzung der Menschenrechte bekannt ist, für Lager von afrikanischen Migranten in Libyen verantwortlich sein soll – nein. Und wenn Schily, wie in Groningen passiert, mehr Geld für Polizei und weniger Geld für Integrationsmaßnahmen fordert, dann kann ich nur sagen: Das ist verrückt.
Was steht noch an?
Wir müssen den Leuten, die zu uns kommen, das Gefühl geben: Ihr seid willkommen. Das haben wir sehr lange versäumt. Und wir müssen ihnen auch sagen: Ihr könnt hier nicht weiterleben wie in Anatolien. Dies ist eine andere Gesellschaft, mit anderen Regeln. Und wir brauchen einen anderen Ton in der Debatte. Der US-Publizist Jeremy Rifkin hat kürzlich mal gesagt: „Ihr jammert zu viel in Europa. Versucht, was zu ändern.“ Damit hat er doch Recht.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE