: Von Gaza nach Genf
Der Tod Arafats hat neue Bewegung in den festgefahrenen Nahostkonflikt gebracht. Die Chancen, dass Scharons geplanter Rückzug aus Gaza kein isolierter Akt bleibt, steigen
Wer in den Tagen vor Arafats Tod Israel besuchte und anschließend nach Ramallah fuhr, erlebte einen denkwürdigen Kontrast der Stimmungen und Perspektiven. Im linken und liberalen Spektrum Israels traf man nach dem unerwartet deutlichen Beschluss der Knesset für einen Rückzug aus dem Gaza-Streifen auf eine Hochstimmung wie lange nicht mehr.
Die kollektive Depression, die sich seit dem Scheitern der Friedensgespräche von 2001, dem Beginn der zweiten Intifada und dem Wahlsieg Scharons ausgebreitet hatte, war wie verflogen. Von einer historischen Zäsur war die Rede, einer veränderten politischen Landschaft, die dem „Friedenslager“ wieder unerwarteten Einfluss auf den Gang der Dinge eröffnet. Denn es war die über Jahre gedemütigte und konturlos gewordene Linke, die Scharon zur Mehrheit in der Knesset verhalf und daraus neues Selbstbewusstsein zog.
Zum ersten Mal wurde die faktische Vetoposition der Siedlerbewegung außer Kraft gesetzt – und das trotz einer massiven Mobilisierungskampagne gegen den drohenden „nationalen Verrat“ und trotz der verbreiteten Sorge, dass dieser innerjüdische Konflikt eskalieren und zu Gewalt führen könnte. Zwar ist es noch ein langer Weg bis zur tatsächlichen Räumung von Siedlungen, die in jedem Einzelfall noch von der Regierung beschlossen werden muss. Dass der angekündigte Rückzug aus dem Gaza-Streifen von der Mehrheit der Israelis getragen wird, daran gibt es nach allen Umfragen jedoch keinen Zweifel mehr.
Ganz anders dagegen das politische Klima in Ramallah. Hier befürchtet man, dass der Tod Arafats einen langwierigen Konflikt um die Neuverteilung der Macht auslösen könnte. Diese Unsicherheit ist auch nach der Ernennung einer Übergangsführung mit Mahmud Abbas und Ahmed Kurei keineswegs ausgeräumt. Noch fehlt der neuen Spitze die Legitimation durch Wahlen, und sie hat ihren ersten schweren Fehler schon begangen, als sie Arafat unter Ausschluss des Volkes beerdigen wollte. Wie weit sich die diversen bewaffneten Fraktionen innerhalb und außerhalb der PLO einer moderaten Führung unterordnen werden, wenn es um einen Kompromissfrieden mit Israel geht, ist mehr als fraglich. Die Morddrohungen radikaler Gruppen gegenüber Abbas sind ein böses Omen.
Arafat hat sein Volk nicht darauf vorbereitet, dass eine Zweistaatenlösung schmerzliche Kompromisse verlangen wird: Weder kann Israel das „Recht auf Rückkehr“ der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 anerkennen, noch wird es sämtliche jüdischen Siedlungen im Westjordanland räumen. Wenn jetzt seine Nachfolger den palästinensischen Massen diese bittere Pille verabreichen müssen, riskieren sie den Vorwurf des Verrats an den nationalen Interessen. Nach all dem Blutvergießen seit dem Beginn der zweiten Intifada wird es noch ein langer, von Rückschlägen bedrohter Weg sein, wieder ein Minimum an Vertrauen zwischen Israel und den Palästinensern aufzubauen und die „Alles oder nichts“-Logik zu durchbrechen. Dazu ist eine Politik der kleinen Schritte notwendig. Umgekehrt gilt, dass sich die neue palästinensische Führung gegenüber Israel nur kooperativ zeigen und gegen die Extremisten in den eigenen Reihen vorgehen kann, wenn pragmatische Schritte eingebettet sind in eine „Road Map“, die zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat führt.
Der Tod Arafats bringt auch Scharon in Zugzwang, von seiner Politik der vollendeten Tatsachen abzugehen. Die Chancen steigen, dass der geplante Rückzug aus Gaza kein isolierter Akt bleiben wird. Bisher wurde dieser Plan in Palästina aber mit Misstrauen aufgenommen.
Schon die Tatsache, dass über Art und Weise des Rückzugs nicht mit der palästinensischen Seite verhandelt werden sollte, ist eine Kränkung. Dazu kommen die bisher bekannten Randbedingungen des „Gaza-Plans“, die den Abzug der Siedlungen als vergiftetes Geschenk erscheinen lassen. Gaza soll weiterhin vom Westjordanland abgeriegelt, seine Außengrenzen sollen von Israel kontrolliert werden, das sich auch für die Zukunft das Recht vorbehält, militärisch zu intervenieren, wenn seine Sicherheitsinteressen es erfordern. Flughafen und Hafen blieben nach den jetzigen Plänen geschlossen. Unter diesen Bedingungen bliebe Gaza ein überfülltes Armenhaus ohne Perspektive und damit ein Nährboden für politischen und religiösen Extremismus.
In den Augen der meisten Palästinenser ist Scharons Gaza-Plan keine Rückkehr zur Politik „Land gegen Frieden“. Sie sehen darin nur ein machiavellistisches Manöver, um Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung zu umgehen und die israelische Kontrolle über das Westjordanland zu festigen.
Genährt wurde diese Interpretation durch ein Interview des langjährigen Scharon-Beraters Dov Weisglass in der Zeitung Ha’aretz. Gaza, so heißt es dort, sei für Scharon im Gegensatz zu den Siedlungen in Judäa und Samaria kein Gebiet von „nationalem Interesse“. Der Rückzug aus dem Gaza-Streifen verschaffe Israel nach innen und außen Luft und ermögliche es der Regierung, die Wiederaufnahme von Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung ad infinitum zu vertagen: nämlich so lange, bis die Palästinenser so friedliebend und demokratisch wie die „Finnen“ geworden seien.
Statt zu revoltieren, sollten die Siedlerorganisationen Scharon also Kränze flechten – die Gaza-Operation garantiere, dass neunzig Prozent von ihnen dauerhaft dort bleiben könnten, wo sie sind.
Die große Mehrheit der Siedler glaubt dieser Versicherung nicht. Sie sehen in der Räumung des Gaza-Streifens einen Präzedenzfall, den es abzuwehren gilt. In der Tat nennt Weisglass Gründe für den Rückzug, die weit über Gaza hinausführen: die ökonomischen Bürden der Okkupation; die Unruhe im Militär aufgrund der aufgezwungenen Rolle einer Besatzungsarmee; die Sympathien für die bilaterale „Genfer Initiative“, die eine Blaupause des Friedens vorgelegt hat; und schließlich die drohende internationale Isolierung Israels, die mit wachsender Besorgnis beobachtet wird.
Vor allem aber, und dieses Argument schiebt sich immer stärker in den Vordergrund, gefährdet die Herrschaft über Millionen von Palästinensern den Charakter Israels als eines zugleich jüdischen und demokratischen Staats. Mag sein, dass Scharon nur auf Zeit spielt. Aber die Zeit arbeitet nicht für Israel.
Je stärker die Siedlungen im Westjordanland ausgebaut werden und je mehr damit die Aussicht auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat sinkt, desto stärker rutscht Israel auf die schiefe Ebene eines Kolonialstaats. Schon werden auf palästinensischer Seite Stimmen laut, die Zweistaatenlösung abzuschreiben und stattdessen auf einen binationalen Staat zu setzen, in dem die Palästinenser aufgrund der demografischen Entwicklung die Mehrheit stellen werden. Israel muss deshalb im eigenen Interesse die Chance ergreifen, die Arafats Tod für die Wiederaufnahme von Verhandlungen bietet. RALF FÜCKS