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Archiv-Artikel

Seelentröster Fußball

Trotz allem mit einer guten Dosis Humor: Regisseur Carlos Manuel bringt im Auftrag des Deutschen Schauspielhauses Nick Woods Stück „Fluchtwege“ im Vereinsheim des FC St. Pauli zur Aufführung

Der Ball ist rund, auf der ganzen Welt. Das bringt Sicherheit, auch für den jugendlichen Asylbewerber Andrea (Stephan Hornung). Überall schleppt er seinen Fußball mit sich herum, dribbelnd, werfend, schießend. Oder während der Flucht zusammen mit seiner aufmüpfigen Schwester Riva (Angela Ascher) und seiner verstummten Mutter (Frauke Plückthun) als Kopfkissen in die Kapuze seines Parkas gestopft.

Ihr hat die Sprache verschlagen, dass ihr Mann auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde, an einer Bushaltestelle, vor den Augen der Passanten. Diese Szene erinnern die Kinder, während sie sie gleichzeitig darstellen. Sie gleiten aus ihren eigenen Rollen hinaus in die Erwachsenenwelt.

Fast unmerklich gelingen diese Übergänge, und so schafft der Regisseur Carlos Manuel eine erstaunliche Erzähldichte. Da schleudert Andrea seine gelbe Wollmütze (Kostüme: Ulli Smid) ins Publikum, und schon verwandelt sie sich in die Ente, die Riva als kleines Mädchen retten wollte. „Retter“, beschimpft der Bruder sie, wütend darüber, dass es seiner Schwester gelingt, in Hamburg Fuß zu fassen.

Gehört sie zu den T-Shirt-tragenden Unterstützern des FC St. Pauli? Der Gedanke liegt nahe, sticheln sich die Geschwister doch im Vereinsheim des Fußballclubs, zwischen den robusten Holztischen und -stühlen, vor der Pokalvitrine glänzender Zeiten. Das Publikum sitzt am Rand, guckt zu und spielt gleichzeitig mit, lässt sich willig schmunzelnd von der Mutter „Arschgesichter“ nennen. Denn dies ist das einzige Wort, dass die Stumme herausbringt.

Die Bedeutung als ein Zufallsprodukt von einer, die sich der neuen Sprache bislang verwiegert hat, und es deshalb nicht besser weiß. Nun traut sie sich. Denn die Behörden haben ihrem Asylantrag endlich stattgegeben. „Sie freuen sich“, verliest Andrea den Brief, entlarvt das Behördendeutsch: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können ...“, in seiner gefrorenen Formalität. Wieder ein Lacher aus dem Publikum.

Wie so häufig in diesem kleinen und sehr feinen Stück mit seiner Daueraktualität: Das Recht auf Asyl, seine behördliche Umsetzung im Kontrast zu Einzelschicksalen. Am Ende will ausgerechnet der cool tuende Leo (auch Angela Ascher), dessen Hose die Poritze zeigt, Andrea für ein Fußballspiel gewinnen. „Gegen diese scheiß Asylanten, gegen dieses Containerteam.“

Für den einen ein dahergesagter Spruch, für den anderen das Signal zum Angriff. KATRIN JÄGER

weitere Vorstellungen: 3., 10. + 17. Dezember, 19 Uhr, Vereinsheim St. Pauli