: Herausforderung Inland
AUS BERLIN HANNES KOCH
Neue Töne sind dieses Jahr von den Wirtschaftsberatern der Bundesregierung zu hören. Die so genannten fünf Weisen versuchen eine Kombination aus den traditionellen Lagern der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Herausgekommen ist ein Vorschlag zur Reform der Krankenversicherung. Das Modell heißt „Bürgerpauschale“. Es basiert auf der Kopfpauschale, die CDU-Chefin Angela Merkel fordert – allerdings ergänzt um einige Elemente der rot-grünen Bürgerversicherung.
Die Abkehr der Krankenversicherung vom heutigen solidarischen Umlageprinzip schlägt der Wirtschaftsweise Bert Rürup schon seit Jahren vor. Nun scheint sich der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, dem Rürup angehört, aber in neuer Differenzierung zu üben. Am gestern präsentierten Jahresgutachten haben erstmals die neuen Mitglieder Beatrice Weder di Mauro und Peter Bofinger mitgewirkt. Di Mauro gilt als Pragmatikerin, Bofinger sympathisiert mit nachfrageorientierten Positionen, die eher den Gewerkschaften gefallen.
Das Modell „Bürgerpauschale“ geht von folgender Analyse aus: Im internationalen Maßstab liegt die Steuerbelastung in Deutschland durchaus im Rahmen, aber die Sozialabgaben sind relativ hoch. Letztere erhöhen die Kosten der Arbeit, was zum bekannten Problem beiträgt: Mehr Jobs als nötig werden abgebaut oder ausgelagert, zu wenige neu geschaffen. Deshalb plädieren die fünf Weisen wie CDU-Chefin Merkel dafür, die Sozialabgaben von den Lohnkosten abzukoppeln und mit einem anderen System zu finanzieren. Jeder Bundesbürger soll also nicht länger einen prozentualen Anteil am Lohn in die Krankenversicherung einzahlen, sondern einen Festbetrag, die Bürgerpauschale. Nach den Rechnungen der Sachverständigen müsste jeder 198 Euro pro Monat entrichten, um die Kosten des Gesundheitssystems zu finanzieren. Peter Bofinger begründet den Paradigmenwechsel so: Weil jeder Bundesbürger einen prinzipiell gleichen Anspruch an das Krankenversicherungssystem habe, solle er auch das Gleiche bezahlen.
So gesehen ist die Bürgerpauschale nicht neu. Allerdings wollen die fünf Weisen nun alle in das neue System einbeziehen: auch Beamte, Selbstständige und Privatversicherte. Diese Idee kommt aus der rot-grünen Ecke der Bürgerversicherung. Durch die Einbeziehung der Wohlhabenden lasse sich die Krankenversicherung besser finanzieren, meint nun auch der Sachverständigenrat – und stellt denjenigen einen steuerfinanzierten Sozialausgleich in Aussicht, die sich die neue Bürgerpauschale wegen zu niedrigen Einkommens nicht leisten können.
Das diesjährige Gutachten der Wirtschaftsberater trägt den Titel „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland“. Die angepeilte Reform der Krankenversicherung ist nur eine dieser Herausforderungen, die schwache Nachfrage der Konsumenten eine andere. Die Ursache für Letztere liege unter anderem in der zu geringen Möglichkeit der deutschen Volkswirtschaft, Wachstum zu generieren. Der Vorschlag zur Abhilfe: ein besseres Bildungssystem und die Umstrukturierung der sozialen Sicherung.
Die Beschreibung der Wirtschaftslage 2005 dürfte bei der rot-grünen Bundesregierung eher dunkle Vorahnungen wecken. Das Wirtschaftswachstum geht nach Überzeugung der Forscher von 1,8 Prozent in diesem auf 1,4 Prozent im kommenden Jahr zurück. Das hänge freilich in erster Linie mit der geringeren Zahl von Arbeitstagen und dem infolge der Dollarschwäche abnehmenden Exportüberschuss zusammen. Die Forscher sprechen deshalb optimistisch von einem „gleich bleibenden Tempo der konjunkturellen Entwicklung“. Was hinten herauskommt, ist trotzdem ein Problem für Rot-Grün: Die Zahl der Arbeitslosen könnte im Februar 2005 die Marke von 5 Millionen Menschen überschreiten, heißt es im Gutachten. Und das im Jahr vor der Bundestagswahl. Ein Ursache: der Anstieg der offiziellen Arbeitslosenzahl durch die Hartz-Reformen.
Die Wirtschaftsweisen erkennen eine „tiefe“ Spaltung. Während die deutsche Exportindustrie neue Rekorde erzielt, wird die „binnenwirtschaftliche Entwicklung“ als „kraftlos“ bezeichnet. In diesem Jahr geht die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse zurück, was durch mehr Ich-AGs und Minijobs teilweise ausgeglichen wurde. Nächstes Jahr werde es zu einem geringfügigen Anstieg der Beschäftigung kommen.
Insgesamt hält der Sachverständigenrat die Politik der Bundesregierung für richtig – mit partieller Ausnahme von Peter Bofinger. Der meint, die Löhne sollten stärker steigen und der Staat solle mit Investitionen konjunkturstützend eingreifen. Beides könne die schwache Inlandsnachfrage beleben – ein klassisches Minderheitenvotum, das die übrigen vier Mitglieder des Gremiums nicht teilen.