: Napoleon in der Handy-Galaxie
NEUKÖLLNZAUBER Einer entschleunigten Oase gleicht der „Saalbau“ in der Karl-Marx-Straße. Dort versucht die Gruppe „Heimathafen Neukölln“ wieder an vergessene Volkstheater-Traditionen im Viertel anzuknüpfen
VON JESSICA ZELLER
Es herrscht permanent Trubel in der Neuköllner Karl-Marx-Straße. Auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten dient die Einkaufsmeile als beliebter Parcours für Anwohner mit Handymusik am Ohr oder Teststrecke für ihre Autohupen. Dass diese Straße einst zahlreiche Theaterbühnen beherbergte, daran erinnert heute nichts mehr. Seit Samstag wird wenigstens einer der alten Säle wieder mit Leben gefüllt. Eine seit zwei Jahren bestehende Gruppe, die sich „Heimathafen Neukölln“ nennt, hat das Theater im Saalbau bezogen. Sie bringen Altberliner Revuen, Volkstheaterstücke, Dokutheater und Sozialkritisches, Revuen, Comedy und Ballhaus-Disko auf die Bühne.
Was die Menschen bewegt
Der Saalbau Neukölln von 1876 mit der Nummer 141 liegt heute versteckt zwischen Handy-Galaxie und Mega Snack. Von außen sieht er aus wie ein schmucker Altbau. Wenn man das Gebäude betritt, mit dem Café Rix zur Linken und dem goldlackierten Theatersaal, ist man über so viel gut gemeinte Bürgerlichkeit überrascht. In dieser entschleunigten Oase, so scheint es, bestimmen gepflegte Torten und ein Kännchen Kaffee das Tempo im Walzerschritt.
Die zehn Macherinnen des Heimathafen Neukölln haben die Räumlichkeiten für zehn Jahre vom Bezirk gepachtet, mit Option auf Verlängerung. „Berlin hat wieder ein Volkstheater!“, verkünden sie seit Wochen offensiv auf Plakaten im ganzen Stadtteil. Ein nicht ganz junger weiblicher Fan wirbt für sie.
Im Foyer verkauft man Unterhemden mit dem Theaterlogo, bietet (kurzzeitige) Tattoos feil und kesse Schiffsjungen und -mädchen mit Rollwagen versorgen die Besucher mit Getränken und Snacks. Man hat den Eindruck, dass hier jemand seine Lektion in publikumsnaher und überaus witziger Vermarktung gelernt hat.
Dazu passt, dass die Frauen vom Heimathafen das Genre des Volkstheaters von seinem muffigen Image befreien und positiv besetzen wollen. „Wir machen ein Theater, das von den Menschen und ihren Geschichten seinen Ausgang nimmt. Was hat Relevanz für Neukölln? Danach wählen wir unsere Stücke aus. Die Form ist nicht entscheidend“, beschreibt es die Dramaturgin Anne Verena Freybott. „Im Zentrum des Heimathafens stehen urbane Themen, die dann unterhaltend, aber nicht unkritisch dargeboten werden.“ Die Regisseurin Nicole Oder ergänzt: „Wir zeigen, was die Leute hier bewegt.“ Am Eröffnungswochenende hatte „Filmzauber, eine Berliner Posse mit Schuss“ von 1912 Premiere. Die Handlung: Ein arroganter Stummfilmproduzent, Adalbert Musenfett (Michael Schäfer) will die Völkerschlacht bei Leipzig „ins Kintopp“ bringen. Besser gesagt, einen bisher unbeachtet gebliebenen Aspekt ihrer Historie – die Liebesaffäre zwischen Napoleon und der Müllerstochter, die den Franzosen angeblich daran hinderte, die Schlacht gegen die Preußen zu gewinnen. Napoleon selbst wird gespielt von dem hoch gewachsenen Filmproduzenten, die weibliche Hauptrolle in dem Historienschinken soll eigentlich eine italienische Diva mimen, wäre da nicht die Geheimratstochter Fränze Papendick (Nina Damaschke), die Musenfett hoffnungslos verfallen ist und alle Hebel in Bewegung setzt, um an seiner Seite zu sein. Bis es schließlich zum erwarteten Happy End kommt, gibt es zahlreiche Tanz- und Gesangseinlagen, Verwirrungen und Nebenhandlungen. Warum wurde hier nicht aus dem Originaltext gekürzt? Und was hat „Filmzauber“ mit dem heutigen Neukölln und seinen Bewohnern zu tun? Man wünscht den Macherinnen vom Heimathafen, dass ihnen der Griff in die Archive beim nächsten Mal besser gelingt und nicht etwas gezeigt wird, was schon vor hundert Jahren zum Schmunzeln, nicht aber zum Nachdenken angeregt hätte. Hoffen lässt aber die aktuelle Theateradaption des im vergangenen Jahr erschienenen Romans „Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder das kurze Leben des Rashid A.“ der ehemaligen Sozialarbeiterin Güner Balci, die am 29. Mai im Saalbau uraufgeführt wird, angekündigt als „modernes Volkstheater“.
Der Sinn des Lebens
Mit dem Drama um einen gewalttätigen deutscharabischen Jugendlichen und das „Gesetz der Straße“ will der Heimathafen vor allem junge Besucher in den Saalbau locken. Denn für die Regisseurin Nicole Oder hat der Stoff Aussagekraft unabhängig von der eigenen Herkunft: „Egal ob man sich mit Rashid identifizieren kann oder nicht, haben viele Jugendliche doch ähnliche Probleme wie er: Aggression, nicht erwiderte Liebe und die Suche nach dem Sinn des Lebens. Arabboy ist ein allgemeines Drama vom Erwachsenwerden.“ Am Wochenende konnte man einen Vorgeschmack bekommen, als Auszüge vom 19-jährigen Hauptdarsteller überzeugend vorgelesen wurden.
Auch sonst ist der Spielplan der nächsten Monate eher mit aktuellen Stücken und Veranstaltungen gefüllt. Es gibt ein Konzert mit Comedyeinlagen unter Beteiligung von Mitgliedern der Berliner Philharmoniker, das Doku-Stück „Para- dies 09“, in dem Londoner Theatermacher mehrere Menschen nach ihrer persönlichen Utopie befragen, und verschiedene „Hafen-Reihen“, wie die „Ballhaus Disko“ jeden Samstag, und den Poetry-Wettstreit „Saalslam“ jeden dritten Dienstag im Monat.
Heimathafen Neukölln im Saalbau, Karl-Marx-Straße 141. Filmzauber-Vorstellungen 23./24. April. www.heimathafen-neukoelln.de