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Archiv-Artikel

Die Schmerzen der Transgression

Das schwul-lesbische Filmfest „Verzaubert“ zeigt große Arthouse-Produktionen lange vor ihrem Kinostart und etwas Weltkino aus Brasilien, dem Iran oder Israel. Ästhetische und kinematografische Konzepte kommen leider zu kurz

Auf der Website der norditalienischen Gemeinde Casarsa della Delizia ist man stolz auf Pier Paolo Pasolini. Wer den Ort nicht kenne, steht dort, dürfe nicht von sich behaupten, den Schriftsteller und Filmemacher zu kennen. Dabei erinnert in Casarsa wenig an Pasolini: Das Haus, in dem er in den Vierzigerjahren lebte, finden wir trotz langen Suchens nicht. Die Erklärungen der Passanten sind so widersprüchlich, dass wir uns in den Einbahnstraßen verirren. Was bleibt, ist der Besuch des Friedhofs. Vor dem Grabstein liegen welke Blumen. Von den Bewohnern Casarsas, sagt man uns später im Blumenladen, stammen sie nicht.

„Un mondo d’amore“ („Eine Welt der Liebe“, 2002) heißt der jüngste Film von Aurelio Grimaldi, und er umkreist den Augenblick in der Vita Pier Paolo Pasolinis, als er Casarsa verlässt, weil er der Verführung Minderjähriger bezichtigt wird. Pasolini ist zu diesem Zeitpunkt – Ende 1949 – 27 Jahre alt, Lehrer, Mitglied der Kommunistischen Partei und Streiter für die friulanische Sprache. Der Skandal ist groß, aus dem Schuldienst wird Pasolini entfernt, aus der Partei entlassen. Zu einem Prozess kommt es nicht, weil die Familien der Jugendlichen die Anklage fallen lassen. An der Seite seiner Mutter geht Pasolini nach Rom.

„Un mondo d’amore“ kleidet all dies in elegische Schwarzweißbilder. Der Protagonist erscheint wie losgelöst vom Lauf der Dinge. Arturo Paglia gibt ihn als entrückte, hinter dicke Brillengläser zurückgezogene Figur. Dementsprechend selten erlebt man Pasolini in der Interaktion mit den übrigen Figuren. In Dialogen beschränkt er sich auf kurze Repliken. Zum Ausgleich öffnet der Regisseur den bedeutungsschweren Raum des inneren Monologs: Pasolini, daran lässt „Un mondo d’amore“ keinen Zweifel, ist ein Genie, das anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als die Normalsterblichen.

Neben „Nerolio“, einem früheren Film Grimaldis über die Vita Pier Paolo Pasolinis, läuft „Un mondo d’amore“ im Rahmen des morgen beginnenden Verzaubert-Festivals. Wie schon in den Vorjahren verdient dieses schwul-lesbische Festival Aufmerksamkeit, da es Filme wie Gus Van Sants „Elephant“, Larry Clarks „Ken Park“ oder auch Bernardo Bertoluccis „The Dreamers“ lange vor deren Kinostart zeigt. Große Arthouse-Produktionen, ein wenig Weltkino aus Brasilien, dem Iran oder Israel, dazu eine Prise Pornografie: Das ist die verlässliche und einträgliche Rezeptur von Verzaubert. Was dabei zu kurz kommt, ist ein ästhetisches und kinematografisches Konzept. Grimaldis Filme illustrieren diesen Mangel. Warum erweitert man sie nicht um eine kleine Pasolini-Retrospektive? Wäre es nicht schön, würde zum Beispiel der Film, der kurz nach Pasolinis gewaltsamem Tod im November 1975 zur Aufführung kam und dessen entrüstete Rezensenten am Ende von „Nerolio“ zu Wort kommen, würde also „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ erneut gezeigt – und sei es nur, um zu illustrieren, dass Transgression im Kino auch heute noch sehr weh tun kann?

Stattdessen muss man vorlieb nehmen mit „Un mondo d’amore“, der schwelgerischen Künstlerläuterung, und „Nerolio“, dem interessanteren der beiden Filme. Darin porträtiert Grimaldi seinen Protagonisten Pasolini als alternden Machtmenschen. Fasziniert von der Vorstadt mit ihren jungen, proletarischen Männerkörpern ist er noch immer, doch hat diese Faszination die Unschuld verloren, die „Un mondo d’amore“ noch behauptete – etwa in der Schlussszene, in der der junge Pasolini balgenden Zehnjährigen zuschaut, einen von ihnen in den Arm nimmt und in die Luft wirbelt. In „Nerolio“ ist Pasolini eitel und herrschsüchtig. Bezeichnend ist eine Szene, in der er einem jungen Studenten aus Verrissen seiner Filme vorliest und sich dabei in Rage redet. Grimaldi belässt es in der Schwebe, ob hier ignorante Kritiker die Kunst Pasolinis verkennen oder ob der zu empfindlich ist, berechtigte Kritik wahrzunehmen.

Einmal erzählt Pasolini von Casarsa della Delizia und warum er von dort wegging: weil er etwas mit einem Zwölfjährigen angefangen habe. In „Un mondo d’amore“ ist von 15- und 16-Jährigen die Rede. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Skandal, den Pasolini am Ende des Jahres 1949 auslöste, heute vermutlich viel weiter reichte. Wie man Pasolinis Kunst und seine Vita zusammendenken kann, ohne auf ein reflexhaftes „Wer so lebt, macht auch solche Filme“ zu verfallen, darauf haben „Nerolio“ und „Un mondo d’amore“ keine Antwort. CRISTINA NORD

Verzaubert, bis 10. 12., Kinos in den Hackeschen Höfen, Termine s. Programm