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Archiv-Artikel

„Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Eskalation“

Der palästinensische Politikwissenschaftler Saleh Abdel Jawad meint, Hamas würde politische Verantwortung zeigen, indem sie nicht an den Wahlen teilnimmt

taz: Der neue PLO-Chef Abu Masen ist letzten Sonntag beschossen worden. Was wollten die Schützen erreichen?

Saleh Abdel Jawad: Ich bin völlig sicher, dass es sich bei den Schüssen in Gaza nicht um einen versuchten Mordanschlag handelt. Es herrschte Chaos. Die Leute wollten mit ihren Gewehren das Trauerzelt betreten und die Sicherheitsleute ließen sie nicht rein. Der Zwischenfall ist bezeichnend für die Situation der Sicherheitsdienste. Wir haben es mit verschiedenen Gruppen zu tun, die einen demonstrativen Machtkampf miteinander ausfechten.

Wie ist es zu erklären, dass zwei Menschen sterben und nicht eine einzige Verhaftung vorgenommen wird?

Zum einen weiß niemand, wer geschossen hat, und außerdem ist die Situation so empfindlich. Die Leute wollen ihr Mitspracherecht sicherstellen und Politik mitgestalten. Ich stimme dem nicht unbedingt zu, aber es mag ein Weg sein, die negativen Aspekte dieser Phase zu lindern und vor allem nicht auf Konfrontation zu setzen.

Die islamischen Fundamentalisten kündigten bereits an, dass sie den militanten Widerstand fortsetzen wollen. Spielen Sie damit nicht dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon in die Hände, der nun sagen kann, dass es auch ohne Arafat keinen Partner auf palästinensischer Seite gibt?

Scharon wird nicht kooperieren, ganz egal, wie sich die Hamas verhält. Wir sollten uns daran erinnern, wer in Wirklichkeit die Regierung von Abu Masen im vergangenen Jahr unterminierte. Die Israelis verfolgten zwei Strategien. Zum einen haben sie Abu Masen als ihren Freund bezeichnet und damit auf palästinensischer Seite diskreditiert. Zum Zweiten setzten sie ihre Exekutionen fort, die das zentrale Instrument der Provokation und der Zerstörung des Friedensprozesses sind. Scharon hat in seinem Tresor hunderte Möglichkeiten, Abu Masen zu stützen. Er müsste nur sagen: Wenn Hamas und Dschihad bereit sind, nur für einen Monat alle Attacken innerhalb Israels zu stoppen, darunter auch diese dummen Kassam-Raketen, dann werden wir für einen Monat die Exekutionen einstellen.

Immerhin hat sich Scharon diese Woche bereit erklärt, hinsichtlich des geplanten Abzugs aus dem Gaza-Streifen Sicherheits- und Wirtschaftsfragen mit den Palästinensern abzusprechen.

Die Israelis sind natürlich bereit zu Sicherheitsregelungen im Gaza-Streifen. Den Palästinensern reicht das nicht. Natürlich ist der Abzug der Siedler zu begrüßen. Damit allein ist der Gaza-Streifen aber noch nicht unabhängig. Die Kontrolle über die Grenzen und den Hafen würde Israel behalten und gleichzeitig die Präsenz im Westjordanland intensivieren. Die große Mehrheit im Westjordanland ist bereit zu historischen Kompromissen, aber eine solche Strategie würden wir niemals unterstützen.

Wie stark ist der ehemalige Sicherheitschef im Gaza-Streifen, Mohammed Dahlan. Könnte er notfalls mit Gewalt das Chaos unter Kontrolle bringen?

Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Eskalation. Wir müssen stattdessen einen politischen Kompromiss erreichen und die Hamas marginalisieren. Es ist unmöglich für Dahlan oder irgendeinen anderen, gewaltvoll vorzugehen. Das würde zwingend den Bürgerkrieg bedeuten. Die Leute sind dagegen. Wenn man die westliche Presse liest, könnte man wirklich meinen, es gäbe in der palästinensischen Gesellschaft nur Extremisten. Die Hamas ist zu einem kompletten Waffenstillstand und Verhandlungen bereit, vorausgesetzt, dass das Ziel die Beendigung der Besatzung ist. Es stimmt, dass die Hamas sich weigert, die Existenz Israels anzuerkennen. Aber wir könnten einen fortgesetzten Waffenstillstand von 50 Jahren oder mehr erreichen.

Frage: Warum will die Hamas die Präsidentschaftswahlen boykottieren?

Die Hamas hat sehr wohl verstanden, dass die Autonomiebehörde am Ende jeden Monats die Gehälter von 140.000 Angestellten bezahlen muss. Diese Rechnung sowie die Kosten für die Infrastruktur werden zum großen Teil von der Europäischen Union getragen, die aber ohne Zweifel die Zahlungen einstellen würde, sobald die Hamas zu stark wird. Gerade damit, dass die Hamas an den Wahlen nicht teilnimmt, beweist sie politische Verantwortung. Die Lage ist schwer. Eins unserer Kernprobleme ist die Arbeitslosigkeit. Die Autonomiebehörde ist der zentrale Arbeitgeber. Die Gehälter dürfen nicht gefährdet werden.

Hätte die Hamas bei Wahlen überhaupt eine reale Chance?

Die Fatah ist zerstritten. Es ist noch immer unklar, ob es nur einen Kandidaten geben wird oder ob zum Beispiel Marwan Barghuti (derzeit inhaftierter Chef der Fatah-Tansim, Westjordanland, d. Red.) trotz der Entscheidung des Fatah-Zentralrates, Abu Masen aufzustellen, kandidieren wird. Wenn sich die Stimmen für das weltliche Lager aufteilen, dann hätten die Fundamentalisten eine Chance, vor allem, wenn Hamas und Dschihad zusammengehen.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL