Zwei Wochen letzter Ehren

Endlich kam der Enkel noch einmal nach Taiwan. Dann starb Großmutter Chen. Ihr Leichnam wurde tiefgekühlt, der Auftakt zu einer enormen Trauerzeremonie

AUS TAIWAN HANNE CHEN

Ihr Mann, dessen Foto sechzig Jahre lang in ihrem Zimmer hing, kam wie sie selbst aus einer wohlhabenden Familie. Allerdings nicht aus einer wohlwollenden. Nach seinem frühen Tod im Chinesisch-Japanischen Krieg nahmen ihr seine Brüder alles ab, was er mit in die Ehe gebracht hatte: Geld, Haus und Land. Sie konnte nicht zu ihrer eigenen Familie zurückkehren. Mädchen waren im chinesischen Kulturkreis verschüttetes Wasser: Keiner sammelte es auf.

Sie stand also da, neunzehn Jahre jung, mit drei kleinen Kindern, und ein langes Elend begann. Zwei Kinder begrub sie, wurde selbst krank dabei und stank von der Krankheit so sehr, dass ihre Mutter sie davonjagte. Ihr Vater hatte das gesamte Familienvermögen verspielt. Geld und Gefühl waren verloren gegangen. Ein Nachbar zeigte Mitleid und lieh ihr eine sehr große Summe. Sie wurde gewissenhaft zurückgezahlt – zwanzig Jahre später, als ihr letztes Kind, ein Sohn, selbst verdiente. Noch heute besucht dieser Sohn den Sohn des längst verstorbenen Nachbarn, der seiner Mutter geholfen hat.

In der Mitte ihres Lebens weigerte sich Großmuter Chen, weiterhin in der Gegenwart zu leben. Sie wurde schizophren und bewahrte sich auf diese Weise wahnhaft alles, was sie in ihrer Kindheit gelernt hatte. „Geht heute nicht nach links um die Ecke!“, rief sie etwa ihren genervten Enkelkindern nach. „Es ist kein guter Tag dafür!“

Als sie noch Treppen steigen konnte, ging sie jeden Abend hoch auf den Balkon des Hauses und zündete Räucherstäbchen an. Manchmal schimpfte sie laut mit den Sternen, manchmal setzte sie sich zu uns und redete sanft und freundlich auf Hakka mit ihrem Lieblinksenkel, meinem Mann. Nichts davon verstand ich, wenig wurde mir übersetzt, und dieses Wenige stammte aus einer längst versunkenen Welt. Unten auf der Straße brausten Motorräder und Autos vorbei. Großmutter Chens Wirkungskreis beschränkte sich unbeirrt auf Räucherstäbchen, Waschbrett und Wok. Wenn sie Sojabohnen verlas, nahm sie jede Bohne einzeln in die Hand und zupfte die winzigen grünen Teile ab. Warum macht sie das?, fragte ich meinen Mann. Keine Ahnung, antwortete er, das hat sie immer gemacht. Sie war stets unendlich sorgfältig. Später sagten alle dasselbe. Die alte Frau hat auf euch gewartet. Sie wusste, dass ihr für eine Reportage über den Konfuzianismus mit zwei Reportern vom Stern kommen würdet. Der Stern sagte ihr nichts, aber sie wollte ihre Urenkelkinder ein letztes Mal sehen.

Eine ungeheure Freude leuchtete da in ihren eingesunkenen Augen auf. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie die Kinder segnen. Es war eine anrührende Geste. Vier Stunden später starb sie auf dem Boden des Badezimmers jenes Hauses, das sie mit Sohn, Schwiegertochter und Enkeltöchtern so lange bewohnt hatte und in den letzten drei Jahrzehnten fast nicht mehr verließ.

Man fuhr sie knapp eine Stunde später in ihr Heimatdorf, zog der Toten das leuchtend blaue Hosenkleid über, das seit geraumer Zeit für diese Gelegenheit gekauft worden war, und bettete sie im Familientempel der Chens provisorisch auf. Der Familientempel gehört mehreren Chen-Familien, die für seine Renovierung eine Menge Geld zusammengelegt haben. Er ist viermal so groß und viermal so nichts sagend wie vor der Renovierung. Die Chens hatten den wunderschönen, kleinen, sehr alten Tempel abreißen lassen. Darin war ich oft zum baibai, zum Beten mit der ganzen Familie, gewesen, und Großmutter Chen hatte als Familienälteste den Ahnen berichtet, dass wir auf Besuch in Taiwan seien, wie es um die Familie steht, vor allem um ihn, ihren Lieblingsenkel, der nur einmal im Jahr nach Hause kam. Sie hatte dann um den Segen der Ahnen gebeten, und wir zündeten Räucherstäbchen an. Es ist schade, dass niemand diesen kleinen, von Rauch geschwärzten Tempel fotografierte, bevor er weiß gekachelter Schwimmbadarchitektur zum Opfer fiel. Immerhin ist der neue Tempel groß genug für alle Chens im Dorf.

Ein sichtlich erschütterter Sohn, mein Schwiegervater, hielt im Tempel bei Großmutter Chen Nachtwache und sorgte dafür, dass die Räucherstäbchen unentwegt brannten, damit das Feuer des Lebens bei den Nachkommen nicht irgendwann erlöschen würde. „Wo steht mein Name?“, fragte meine kleine, siebenjährige Tochter, als wir den Kindern die Ahnentafel im Tempel zeigten. „Kind“, sagte mein Mann, „Töchter werden hier nicht verzeichnet.“ – „Oh!“, sagte sie mit verschränkten Armen. „It’s a boy thing, yeah?“

Die Dinge nahmen umgehend ihren Lauf. Der Wahrsager wurde konsultiert und setzte den Bestattungstermin auf zwei Wochen später fest. Ein provisorischer gläserner Sarg kam am Nachmittag, mit angeschlossenem Kühlautomaten – bei tropischen Temperaturen unvermeidlich. Großmutter Chen musste gefroren werden auf minus fünf Grad.

Mit Hilfe des ganzen Dorfes wurde ein großer Baldachin vor dem Tempel aufgebaut, Blumen sowie kreisrunde Tafeln mit Plastikblüten und Beileidsbekundungen wurden herangeschafft. Einen kleinen Altar gab es und fünf bezahlte Vorbeter und Vorbeterinnen, die später sowohl taoistische als auch buddhistische Zeremonien durchführen würden. Wir erwiesen Großmutter Chen am nächsten Tag die vorletzte Ehre, weiß gekleidet. Weiß ist die chinesische Farbe der Trauer, ursprünglich meinte sie einfach nur „ungefärbt“, zum Zeichen größter Bescheidenheit angesichts eines Schicksalsschlags.

Wir waren nicht darauf gefasst, dass mein vierzigjähriger Mann in seiner Eigenschaft als erster und einziger männlicher Enkel vor versammelter Dorfmannschaft auf allen vieren zur Bahre seiner Großmutter kriechen musste. „Das ist so Sitte“, sagte der Zeremonienmeister. Ich war der Sitte ausnahmsweise sehr dankbar, dass sie die Ehefrauen überging.

Großmutter Chen wurde geschminkt. Das übernahm eine Frau, deren Beruf es offensichtlich war, bei Beerdigungen auszuhelfen. Meine Schwägerinnen waren seit dem Morgen im Tempel gewesen, hatten Totengeldscheine – grobe, gelbe Papiere, die Währung des Jenseits – einzeln gefaltet und in einer Blechschüssel vor ihrer toten Großmutter verbrannt, hunderte zunächst, tausend nach ein paar Stunden. Einen nach dem andern, denn das Lebensfeuer der nachkommenden Generationen musste weiterbrennen. Es war heiß in diesem April in Südtaiwan. Bei der Blechschüssel mit dem Feuer war es noch heißer. Die Männer überließen die Arbeit den Frauen und unterhielten sich. Meine Schwägerin Liquan widmete sich ihrer Pflicht mit dem ergebenen Ernst, den man so oft auf den Gesichtern chinesischer Mädchen sehen kann.

Zur Zeremonie war das halbe Dorf gekommen, um einen ersten Abschied von Großmutter Chen zu nehmen. Wir defilierten am Glassarg vorbei und verneigten uns vor der Toten mit zusammengelegten Händen. Die erste Zeremonie begann vor dem kleinen Altar. Drei ältere Frauen und zwei Männer führten sie durch. Die Männer lasen vor. Nur die Männer. Wir standen hinter ihnen mit aneinander gelegten Handflächen und gesenkten Köpfen. Einer der Zuschauer merkte, wie bleich meine Schwiegermutter wurde, und schob ihr einen Stuhl hin. Sie setzte sich selbstverständlich nicht hin. Sie bewahrte ihre Haltung. Eher hätte sie eine Ohnmacht riskiert. Die Vorbeter trugen schwarze Roben und sprachen mit monotonen Stimmen, die wie eine Valium-Tablette wirkten, selbst in dieser emotional sehr bewegten Situation. Sie wiederholten sich endlos.

Zweimal fand an jenem Tag eine solche halbstündige Lesung statt: Der Altar wurde kurzerhand von einem taoistischen in einen buddhistischen umgebaut. Dazwischen lag das Abendessen im nächsten Restaurant mit vielen Gästen an vielen Tischen, das mein Schwiegervater bezahlte. Jeder war eingeladen. In den folgenden vierzehn Tagen sollten dort noch täglich Essen auf seine Kosten stattfinden. Auch sollte mein Schwiegervater seine Tage diese zwei Wochen lang vor dem Altar verbringen, von morgens um fünf bis zum späten Abend, und die Räucherstäbchen am Brennen halten. Für die Nacht wurde ein Riesenräucherstab angezündet, der sieben Stunden lang hielt.

Der letzte Teil folgte zwei Wochen später. Das fand mein Mann sehr spät, normal seien drei bis sechs Tage zwischen Tod und Bestattung. Eine chinesische Freundin widersprach aber, dass es sich sehr lange hinziehen könne. Da gibt es einen der reichsten Männer von Taiwan, seit über zehn Jahren tiefgekühlt und unbegraben, weil sich seine Erben immer noch streiten. Wenn er endlich begraben würde, hätte keiner mehr ein Recht auf Anfechtung des Erbes. Er war in seinem Leben so reich und ist so arm im Tod. Sie kühlen ihn immer noch.

Die eindeutig stumpfsinnigste Beschäftigung, die die Männer selbstredend den Frauen überließen, war das Falten von gelben, buddhistisch beschrifteten Zettelchen. Stundenlang. Später würde man die Zettelchen zu künstlichen Lotosblumen zusammenbinden und verbrennen. „Fürs Arbeiten viele Hände haben und fürs Essen wenige Münder, sagen wir hier“, meinte eine der Frauen, die faltete. Yining faltete mit. Wieder der ergebene Gesichtsausdruck, der mich erschreckte. Die Männer tranken Eistee und unterhielten sich.

Die zweitstumpfsinnigste Beschäftigung erfolgte am Tag vor der Einäscherung. Unsere Vorbeter waren wieder da, diesmal mit endlosen Sutras. Ich begann schwarze Roben zu fürchten. Ah mi tuo fuo – niederknien, ah mi tuo fuo – aufstehen, ah mi … – niederknien, ah mi … – aufstehen, niederknien, aufstehen, Hände falten, zuhören, niederknien. Doch, doch, wir hatten ein paar dünne Decken für die Knie, und trotzdem: Man überschätzt seine Knie; es tat weh. Und es dauerte ewig, von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags und dann noch einmal von zwei Uhr bis fünf. Aber jeder trug es mit Fassung. Ein Glück, dass es nicht August war. Dann würde man leicht ohnmächtig, sagte eine Freundin.

Am nächsten Tag standen wir schon um vier Uhr auf statt um fünf wie am Vortag. Es gab mehr Abwechslung und schöne Musik, westliche und chinesische. Uns nahen Angehörigen wurde so etwas wie ein Sack mit Kapuze umgebunden, wahrscheinlich ein Relikt uralter Beerdigungszeremonien. Zunächst nahmen die Verwandten vor einem extra aufgebauten zweiten Altar vor dem Foto von Großmutter Chen Abschied.

Dann folgten die Freunde der Familie in einer schwer durchschaubaren Reihenfolge; der Zeremonienmeister sorgte dafür, dass es alle richtig machten. „Einmal verbeugen, zum zweiten Mal verbeugen und zum dritten Mal verbeugen!“ Abgang. Die Nächsten bitte! Das zog sich hin, bis um zehn Uhr dann wirklich der Leichenwagen kam. Zwei Frauen klammerten sich an ihn, laut schluchzend. Meine Schwiegermutter lächelte. Sie lächelte überhaupt viel. Sie war eine sehr große Last losgeworden. Eine der weinenden Frauen zog sie zum Wagen. Sie solle wenigstens so tun, als hätte sie die Tote unendlich geliebt. Meine Schwiegermutter tat auch das wie immer mit Haltung. Aber sie versuchte erst gar nicht zu weinen.

Wir fuhren zum Krematorium, wenigstens sechzig Personen. Es war eine schmucklose, karge Halle. Nach fünf Minuten chinesischer Musik, die sich dramatisch steigerte, wurde der Sarg dem Feuer übergeben. Diesmal schlugen die Emotionen sehr hoch. Die engeren Familienangehörigen knieten im Kotau, viele weinten laut auf, und die Musiker gaben sich große Mühe, alle zu übertönen.

Aber dann war es vorbei. Mein Mann musste neunzig Minuten auf die Urne mit der Asche warten. Wir gingen essen. Und etwas war seltsam dabei: Ganz sachlich zog man uns den Sack aus, ganz sachlich ging man essen. Vielleicht hatte der enorme zeremonielle Aufwand etwas gelindert. Ich habe westliche Beerdigungen erlebt, nach denen die Betroffenen doch sehr ungetröstet nach Hause gingen. Hier schienen – der Schein kann ja trügen – die Gefühle besser beherrschbar zu sein. Wer weiß.

Als schließlich mein Mann mit der Urne kam, blieb uns noch der Aufstieg auf den nächsten Bergfriedhof zum Familiengrab der Chens. Diesmal war es drückend heiß; unsere Kinder litten ziemlich. Die Vorbeter waren wieder mitgekommen und lasen Sutra. Irgendwann war auch das zu Ende. Erst in diesem Moment begriff mein Sohn, dass er mit der alten Frau, die Sojabohnen im Haus seiner Großeltern verlesen hatte, verwandt war. „Was dachtest du denn, wer sie ist?“, fragte ich ihn recht fassungslos, denn wir hatten es doch oft erklärt. „Weiß nicht“, sagte er.

HANNE CHEN, 43, ist Sinologin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London. Im Bielefelder Verlag Reise Know-how sind von ihr erschienen: „Kulturschock China“, „Daoismus erleben“ und „Konfuzianismus erleben“