: Kommt Zeit, wird‘s zart
Ist ein traditioneller festlicher Schmaus gefällig? Mit Turbovögeln aus der Industriemast wird das allerdings nichts. Für ein kulinarisches Erlebnis sollten Genießer etwas auf sich nehmen – zum Beispiel den Weg zum Festtagsbraten in spe
VON TILL DAVID EHRLICH
Jetzt ist sie da, die dunkle Jahreszeit mit ihrer Kälte und den kurzen Tagen. Da will sich der Wintermensch gern verkriechen. Entwickelt ein natürliches Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit und gehaltvoller Nahrung. Und nach Symbolen. Die gebratene Gans ist so ein Vogel, der all das in sich vereint. Die Gans wird immer noch mit der Zeit zwischen St. Martin und Weihnachten verbunden. Die gebratene Martins- oder Weihnachtsgans galt und gilt heute noch als festlicher Wintergenuss. Keine Weihnachtszeit ohne das obligate Gänseessen. Die knusprige Gans ist bei uns der Klassiker schlechthin.
Und davon gibt es nicht mehr viele in unserer täglichen Ernährung. Die Globalisierung des Geschmacks und die Industrialisierung der Nahrungsmittel nivellieren zunehmend alles Traditionelle und Individuelle. Es wird ersetzt durch Marken, Trends und Images. Ob Riesenpizza, Monsterpute, Turbolachs oder Neuseeland-Lamm – all das ist nicht mehr an eine Saison gebunden. Es ist immer und billig und überall verfügbar. Und natürlich sind auch knüppelhart gefrorene Gänse aus Schnellmast im Angebot. Die kommen vor allem aus Polen und Ungarn. Sie werden oft zu tausenden in industriellen Mastanlagen gemästet, schnell und billig, wie es unter artgerechten, tierfreundlichen Verhältnissen freilich nicht möglich ist.
Aber ein solcher Vogel schmeckt einfach nicht so gut wie einer aus bäuerlicher und artgerechter Aufzucht. Natürlicher Geschmack ist eben nichts Nebulöses, sondern ein Ergebnis, das auf konkreten Umständen beruht. Wenn wir festlich genießen wollen, müssen wir uns also um gute Produkte kümmern. Okay, das ist etwas aufwendiger und teurer als der Gang zum Discounter oder Supermarkt. Aber es lohnt sich. Die auf dem Markt bestellte Gans bei dem Bauern, der sie mit Sorgfalt aufgezogen und für uns geschlachtet hat, persönlich abzuholen ist auch ein kleines Erlebnis. Es verbindet uns mit den Dingen, die wir uns einverleiben. Man muss wirklich nicht viel Fleisch essen, aber wenn, dann sollte es gut und schmackhaft sein. Das hebt letztlich unser Wohlbefinden.
Die Suche nach einer Alternative verschlägt uns in den nördlichen Spreewald. Hohenbrück heißt ein kleines Dorf, unweit von Neulübbenau, eine reichliche Autostunden von Berlin entfernt. Am Rande eines Kiefernwaldes liegt der einsame Hof der Familie Paetsch. Ein Biolandbetrieb. Die letzten Äpfel leuchten rot an blattlosen Ästen. Es riecht angenehm würzig nach verbranntem Buchenholz. Bevor man die Gänse sieht, hört man sie. Es ist ein fröhliches Kreischen, zwischen permanenter Aufregung und gemütlichem Mitteilungstrieb. Dann sieht man den schneeweißen Pulk. Unzählige schlanke Hälse, hochgereckt und anmutig. Orangefarbene Schnäbel, die schimpfen und schnattern. Es ist eine muntere Gesellschaft, 750 Gänse an der Zahl. Sie stolzieren auf einer großzügigen Weide herum, die eine grasgrüne Wiese ist. Ein kleines Gänseparadies.
Willi Paetsch steht am Rande seiner Gänseherde. „Gänse sind misstrauisch“, sagt der 74-Jährige, „sprechen Sie nicht, sonst gehen die Tiere weg. Meine Stimme sind sie gewohnt.“ Kein Wunder, der Mann ist oft bei seinen Tieren. Im Juni hat er die Herde aus Jungtieren gebildet und mit der Mast begonnen. Sie währt fünf Monate. Spätmast heißt das. Die Schnellmast der Großbetriebe hingegen begnügt sich mit 10 bis 12 Wochen. Die Gänse können dann nur wenig Fleisch bilden und sind zudem nicht so schmackhaft. Nur 1 bis 2 Zentimeter dick ist das Brustfleisch aus der Schnellmast. Die bäuerliche Spätmast gibt dem Wachstum mehr Zeit, hier ist das Brustfleisch 3 bis 4 Zentimeter dick. Es hat zudem weniger Fett. „In der Natur wächst alles langsam“, sagt Paetsch. Nur wenn die Gänse langsam wachsen, kann Spitzenqualität entstehen. Und sie müssen genug Auslauf haben und tagsüber auf der Weide grüne Halme zupfen können.
Wem Gans zu fett ist, für den gibt es Alternativen. Willi Paetsch hat wunderbare Hühner der Sorte französisches Masthuhn. Die männlichen werden nach etwa 3 Monaten geschlachtet und als Brathähnchen verkauft. Ihr Fleisch mundet besonders zart. Die weiblichen Hühner werden älter, bis zu 4 Monate. Fleischhuhn heißen sie. Sind gehaltvoll, weich und aromatisch. Durch die längere Mast geraten sie größer und fetthaltiger. Eine gute Alternative zum Gänsebraten.
Eine ausgesprochene Delikatesse sind Perlhühner. Sie sind dem wilden Huhn am nächsten und lieben die Freiheit. Weshalb sie oft wegfliegen; es ist daher schwierig, sie zu halten. Drei Monate dauert die Aufzucht. Das Fleisch ist etwas dunkel, fettarm und sehr schmackhaft.
Pute ist nur dann ein würdiger und festlicher Braten, wenn sie nicht aus der Industriemast kommt. Eine Alternative ist die Bronzepute. Sie ist schwer aufzutreiben. Aber die Mühe lohnt sich. Es ist eine uralte Art, die der Wildpute am nächsten steht. Sie ist klein, das Fleisch zart und würzig. Hat nichts mit den Monsterputen aus dem Supermarkt zu tun. Es ist ein Erlebnis, zu erfahren, wie wunderbar und anders Pute schmecken kann.
Preise pro Kilo: Brathähnchen 7,50 €, Fleischhühner 6,50 €, Gänse 9,80 €, Perlhühner 9,50 €. Der Preis für Bronzeputen liegt darüber. Gänse, Brathähnchen, Fleischhühner vom Bioland-Hof Hohenbrück: Gänse und Brathähnchen ab sofort. Fleischhühnchen ab Mitte Dezember. Donnerstags (12–18 Uhr) auf dem Kollwitzplatz. Samstags (8–13 Uhr) in der Domäne Dahlem. Vorbestellungen unter Tel. (03 54 73) 6 16. Perlhühner vom Naturhof Gaßmann: Donnerstags (12–18 Uhr) auf dem Kollwitzplatz. Vorbestellungen unter Tel. (03 34 57) 66 50/8. Ab Mitte Dezember. Bronzeputen: Voraussichtlich ab Mitte Dezember im Brot&Butter-Laden von Manufactum am Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg