: Deutschland, ein Wörtermärchen
Eine, die aus allen Rollen fällt und sich auf die Suche nach der Schönheit der Sprache begeben hat – ein Porträt der Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die morgen in Berlin den Kleist-Preis erhält
VON DANIEL BAX
Es war der Brief eines unbekannten Arbeiters, der Emine Sevgi Özdamar zu ihrem ersten literarischen Text inspirierte. Er lag in einem Koffer mit Habseligkeiten, den dieser in einer leeren Wohnung zurückgelassen hatte, als er in die Türkei zurückgekehrt war. „Er hat Schreibmaschine benutzt und das gesamte Papier beschrieben, bis zum Rand“, erinnert sich Emine Sevgi Özdamar. Der Fund diente ihr 1982 als Vorlage für ihr Bühnenstück „Karagöz in Alemania“. Es erzählt die Geschichte eines türkischen Bauern, der mit seinem Esel von seinem Dorf nach Deutschland reist, seine Frau nachholt und dann doch wieder in die Türkei zurückkehrt, als kabarettistische Groteske.
Schon damals schöpfte Özdamar aus der teils wörtlichen Übersetzung von Redewendungen und Sprichwörtern aus dem Türkischen, aus dem Spiel mit philosophischen und literarischen Zitaten sowie dem Broken German der Gastarbeiter jene neue Sprache, die bis heute ihr Erkennungsmerkmal ist: Deutschland, ein Wörtermärchen. „Damals kam ich auf die Idee von Deutschland als Tür, durch die man hinein- oder hinausgeht. Und auf die Frage: Was passiert dabei mit der Sprache?“, sagt sie beim Gespräch in einem belebten Café in Berlin-Kreuzberg.
Als das „Karagöz“-Stück entstand, arbeitete Emine Sevgi Özdamar gerade als Schauspielerin am Schauspielhaus Bochum unter der Leitung von Claus Peymann und hatte selbst schon eine sprachliche wie biografische Odyssee hinter sich. Geboren in Malatya im tiefen Südosten des Landes, wuchs sie zusammen mit dem Großvater auf, der noch die arabische Schrift beherrschte, und der Großmutter, deren Geschichten sie am Bett lauschte, in einer längst vergangenen Türkei.
1965 kommt sie das erste Mal nach West-Berlin, wo sie zunächst in einer Fabrik arbeitet und in einem Wohnheim gegenüber dem Hebbel-Theater wohnt. Eigentlich wollte sie jedoch Theater spielen, und so kehrt sie zurück nach Istanbul, wo sie Schauspielunterricht nimmt und erste professionelle Rollen erhält. 1976 kehrt sie wieder nach Deutschland zurück – diesmal, um als Hospitantin an der Volksbühne in Ost-Berlin zu arbeiten. Für zwei Jahre zieht sie später mit Benno Bessons Brecht-Inszenierung „Der kaukasische Kreidekreis“ nach Paris und Avignon, bevor sie 1979 ein Engagement in Bochum annimmt.
So hat sie selbst erfahren, wie es ist, wenn man mit der Migration „aus den Hierarchien herausgeht“ und in der Fremde neue Rollen spielt, wie sie sagt: vom Bauer in der Türkei zum Straßenkehrer und zur neuen Mittelschicht in Deutschland, von Ophelia zur Putzfrau. Und so sind all ihre Romane und Erzählungen, die sie ab 1990 verfasst hat, von autobiografischen Erlebnissen gefärbt.
Ihr jüngster Roman „Seltsame Sterne fallen zur Erde“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003) beschreibt ihre Zeit als Hospitantin an der Volksbühne in Ost-Berlin. Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft im Wedding, die über einem Puff liegt, und pendelt zwischen den beiden Stadthälften wie in einem unwirklichen Schwebezustand. „Ich ging über die Grenze ins Theater. Es war wie eine Insel, auf der ich lebte“, erinnert sie sich. Im Westen herrscht die unruhige Zeit der Kommunen, Politsekten und Psychogruppen, im Osten dagegen schienen die Uhren langsamer zu gehen. „Die Kommune war auch wie ein Theater. Aber die sinnvolle Arbeit war in Ost-Berlin: Inszenierte Szenen sind schließlich schöner als uninszenierte“, fasst sie zusammen.
Ihr Buch spiegelt ein Stück deutsch-deutscher Zeitgeschichte aus ungewohnter Perspektive. Der erste Teil ist im Rückblick geschrieben, der zweite Teil besteht aus Auszügen aus ihren Tagebüchern und enthält Zeichnungen, die sie bei den Proben anfertigte. „Ich wollte Nähe herstellen. Vorher habe ich nie Teile meiner Tagebücher einfließen lassen“, sagt Emine Sevgi Özdamar.
Ihre Reise ins Niemandsland zwischen Ost- und West-Berlin verschaffte ihr Distanz zur Türkei, deren bleierner Zeit sie entflohen war, und auch zur türkischen Sprache. In Istanbul herrschte in den Siebzigerjahren ständig der Ausnahmezustand, bewaffnete Gruppen lieferten sich Bandenkriege, und prominente Linke fielen Anschlägen zum Opfer. „Ich war müde geworden an der eigenen Muttersprache“, sagt sie. „In den dunklen Jahren in der Türkei konnte man die Wörter plötzlich nicht mehr inszenieren, bestimmte Dinge durften nicht gesagt werden. Auf der Bühne in Ost-Berlin konnte ich die Wörter wieder körperlich erfahren.“ So empfand sie die abgeschiedene Arbeit an der Volksbühne wie den Aufenthalt in einem Sanatorium. „In den Siebzigerjahren war Wörterkrieg, auch in Deutschland. Aber ich wollte die Schönheit der Sprache wiederfinden durch die Schönheit einer anderen Sprache.“
Für ihr Buch ist sie vor ein paar Jahren wieder nach Berlin gezogen, nach langen Aufenthalten in Düsseldorf, Paris und München. „Am Anfang dachte ich, das ist eine schlechte Fotokopie meines Lebens, meiner Stadt. Aber jetzt habe ich ein, zwei Stellen gefunden, da gehe ich gerne hin“, sagt sie. „Berlin ist eine Stadt, die aus Zugezogenen besteht. Jeder ist fremd hier, und das finde ich angenehm. In Düsseldorf oder München hat man dieses Gefühl nicht.“ Natürlich habe sich durch die Vereinigung alles verändert, gerade im Osten. „Die Mauer war nicht aus Stein, sondern aus Zeit“, sagt Emine Sevgi Özdamar. „Nach der Wiedervereinigung habe ich mich gewundert, dass es dort auch Schnee gibt.“
Inzwischen seien die gröbsten Wunden des Übergangs, die das Land „zur Taubstummenschule gemacht worden“ habe, verheilt. Jetzt sei es besser, „jetzt ist es postmodern“, findet Emine Sevgi Özdamar. „Früher war Berlin eine sehr provinzielle Stadt und gerade am Sonntag alles andere als lebendig. Darum war mir die WG im Wedding sehr recht.“
Im Berliner Immigrantenbezirk Kreuzberg, wo sie heute wohnt, wird sie häufig auf der Straße gegrüßt. Man rühmt sich ihrer Anwesenheit, schließlich ist sie unbestritten eine Pionierin der deutschtürkischen Kulturszene. Weil sie zwischen dem Betroffenheitsgestus der Gastarbeiterliteratur und der Abgeklärtheit der jüngeren Generation einen dritten Weg eröffnete, wird sie von vielen deutschtürkischen Autoren als Vorbild anerkannt. Und weil sie als Schauspielerin in den Achtzigerjahren in Filmen wie „Yasemin“ oder „Happy Birthday, Türke“ agierte, gilt sie als „Mutter aller Filmtürken“. Es heißt, der Regisseur Fatih Akin wolle schon seit langem eines ihrer Bücher verfilmen. Und der Schriftsteller Feridun Zaimoglu, dessen blumige Kanak-Sprak-Neuschöpfung sich durchaus von Özdamars Stil beeinflusst zeigt, redet nur in den höchsten Tönen von ihr.
Özdamar zeigt sich geschmeichelt, weist Vergleiche aber von sich: „Sein Rhythmus ist anders. Daran merkt man, dass unsere Körper andere Erfahrungen gemacht haben. Ich habe nicht seinen Schnabel. Ich singe eher in mich hinein.“ Manchen gilt sie gar als role model: „Manchmal kommen Mädchen zu meinen Lesungen, die würden mich gerne als ihre Mutter haben“, hat Emine Sevgi Özdamar schon erlebt.
Ihre eigenen Idole dagegen waren hauptsächlich Männer: Faulkner, Joyce, Wilder, Tennessee Williams, Joseph Conrad, aber auch Böll und Brecht natürlich sowie moderne türkische Dichter wie Can Yücel, Ece Ayhan oder Orhan Veli. Und eine Frau: Else Lasker-Schüler. „Durch sie habe ich eine Zeit erfahren, nach der ich immer Sehnsucht hatte, die Zeit vor den Katastrophen“, sagt Emine Sevgi Özdamar. „Wenn ich einen Regisseur dafür begeistern könnte, würde ich sie gerne spielen.“ Innerlich ist sie schon ganz dafür bereit: Als sie das letzte Mal mit dem Zug von Paris kommend durch Wuppertal hindurch gefahren sei, habe sie laut gerufen: Else!