: Umbau der Immunsysteme
Patient Deutschland: Die Abwehrkräfte liegen darnieder, die Bürger liegen flach
Hatschi! Hatschi! Überall schnupfen sie jetzt herum, die wehleidigen Deutschen. Auch gehüstelt wird recht viel. Der „dicke Kopf“, der „sooo zu!“ ist, wird allenthalben beklagt und gehört dieser Tage schon ebenso zur deutschen Grundbefindlichkeit wie bleischwere Glieder, fahle Gesichtshaut und triumphierend zwischen die klammen Finger geknüllte triefnasse Papiertaschentücher.
Der globale Eiseshauch, der derzeit durch die Republik zieht, kommt eigentlich nicht unvorbereitet. Schon seit langem mahnen uns vorzügliche Analytiker und um unser Wohl besorgte Journalisten, uns der kalten, rauen Wirklichkeit zu stellen. Die ungern gehörte Wahrheit lautet: Das Land hat den längst überfälligen Umbau seiner Immunsysteme verschlafen. Doch jetzt ist es so weit: Deutschlands Abwehrkräfte liegen darnieder, seine Bürger liegen flach!
Dabei haben die Deutschen keine Tsetse-Fliegen und auch auch keine Cholera-Erreger im brackigen Trinkwasser zu fürchten, sondern im Gegenteil: überall gute Apotheken, in denen es Grippostad und Echinacin, Heumanns Erkältungstee und Vitamin-C-Bomben gibt. Sie haben genug anzuziehen, Föhnapparate für die nassen Haare, außerhalb Berlins auch funktionierende Zentralheizungen, und obendrein eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.
Wie kann es trotzdem dazu kommen, dass sich so viele Menschen dieser Tage anstecken bzw. anstecken lassen von der grippalen Stimmung, die sich wie Rotz und Mehltau über unser Land legt? Woher kommt diese Verzagtheit, diese Mutlosigkeit, sich den erstbesten Krankheitserreger an bzw. in den Hals werfen zu lassen – und sich von diesem dann ins Bett?
Die Experten sind sich einig: Es ist vor allem ein mentales Problem. Die Deutschen in ihrer typischen Vollkasko-Mentalität sind es gewohnt, dass Vater Staat ihnen alle Sorgen abnimmt. Wenn er dies aber nicht mehr leisten kann, weil er den wirklich Bedürftigen wie darbenden Konzernen und hungernden Millionären helfen muss, strecken sie die Waffen.
Deutschlands Bürger hätten am liebsten ein Dutzend neue Gesetze und eine wuchernde Bürokratie, die ihnen die Sorge um den grippalen Infekt abnimmt. Es käme ihnen gerade recht, wenn die Gesundheitsbehörden „Grippe verboten!“- Schilder vor die Häuser stellen würden und in die Hausflure Plastiksäcke voller dicker Socken. Eine Obrigkeit, die den Deutschen Wärmflaschen auf Krankenkassenkosten verspräche und eine Extraportion Antibiotika ins Trinkwasser, würde derzeit jede Wahl gewinnen. Hauptsache, die Landsleute fühlen sich in ihrem Rundumversorgungsanspruch bestätigt. Hauptsache, sie können sich voll und ganz auf ihre Hobbys konzentrieren, auf Murren, Mobben und Müßiggehen!
Die Deutschen haben noch nicht begriffen, dass es draußen auf den Weltmärkten weitaus schlimmere Krankheiten gibt. Von Beulenpest und Diphterie bis zu Lepra und Pocken reichen die Möglichkeiten, die die Menschen in anderen Ländern flexibel zu nutzen wissen, ohne deshalb gleich zu klagen. Sie sind es ja nicht anders gewohnt, ergreifen vielmehr die vielfältigen Chancen, die sich ihnen bieten. Sie übernehmen Verantwortung fürs eigene Schicksal und geben halt die Löffel ab, wenn die Marktgesetze es fordern!
Vielleicht muss es uns Deutschen erst viel schlechter gehen, bis wir begreifen, was wir an unseren grippalen Infekten haben. In China und den umtriebigen Tigerstaaten würden sich die Menschen drei oder vier Tage Bettruhe am Stück regelrecht wünschen, statt immer von Tigern angefallen zu werden und ihre Fleischwunden in den Arbeitspausen pflegen zu müssen. Heißen Tee mit Honig schlürfen zu dürfen und Kamillendampf zu inhalieren – die meisten Afrikaner würde sich die Finger danach lecken, allein wegen der Flüssigkeit! Und Wadenwickel? In Kriegsgebieten, wo Minen den Alltag bestimmen, hat man ja oft nicht mal Waden!
Und so bleibt die bange Frage: Können wir Deutschen uns wieder auf unsere alten Stärken besinnen? Gelingt der Umbau unserer Immunsysteme, auch wenn wir dazu eventuell unsere Apathie überwinden und die Kranken von uns fernhalten müssen?
Gibt es womöglich ein Rezept, mit dem wir das Deutschland der fröhlichen Menschen wiederbeleben können? Das Land der Menschen, die in knappen Leibchen und kurzen Röckchen durch die Straßen flanieren? Die in Badehosen und Bikinis am Baggersee grillen? Die pudelwohl ihr Leben meistern, ihrer Arbeit nachgehen und ihre Freizeit genießen?
Bei aller Skepsis: Deutschland hat das Potenzial dazu. Vielleicht ist es ja nur eine Frage der Zeit. Vielleicht müssen wir nur diese lange dunkle Phase der Umorientierung überstehen. Den Mut nicht verlieren. Dem Nachbarn ein Schnäuztüchlein reichen. Und uns hin und wieder artig „Gesundheit!“ zurufen. MARK-STEFAN TIETZE