: Klauen, was die Kolchose hergibt
Russland ist dem Westen in einer Einsicht voraus: Diebstahl ist nur eine Frage der wirtschaftlichen Balance
Die Gazette ist eine linke, kultur-politische Dreimonatszeitschrift aus München, die an die eingestellte Transatlantik anknüpft. In der jüngsten Ausgabe findet sich ein Interview mit dem Sozialforscher Alexander Nikulin, der die neuen Formen der Agrarwirtschaft im Gebiet von Nischninowgorod und Saratow sowie im Kreis Krasnodarsk erforschte. Dies vor dem Hintergrund der in Russland immer noch anhaltenden Debatte über große Kolchosen (Agrar-industrielle Komplexe – APK) und kleine bäuerliche Privatlandwirtschaften bzw. Datschen (persönliche ergänzende Wirtschaften – LPCHA).
Dabei ist etwas „sehr Interessantes“ herausgekommen, meint Nikulin, und zitiert den Historiker Karamsin, der einmal einem in Paris lebenden Dichterfreund auf dessen Frage, was in Russland vorgehe, antwortete: „Das ist sehr einfach: Man klaut.“
Zwar wisse auch heute noch jeder darüber Bescheid, aber niemand denke darüber nach, was das bedeute: „In Wirklichkeit besteht in der bäuerlichen Sphäre eine Symbiose zwischen dem Kleinen und dem Großen“ – wobei es um eine „harmonische Koexistenz“ zwischen beiden gehe, was „in den merkwürdigsten Formen des Naturalaustauschs geschieht: Man zahlt seinen Kolchosmitgliedern für ihre Arbeit nichts, dafür nutzen die Kolchosmitglieder illegal die Ressourcen. Dadurch erhält und reproduziert sich das ganze System und funktioniert weiter. Wenn die Kolchosmitglieder zu viel klauen, dann geht die agrarische Produktionspotenz der Kolchose zugrunde; dann kehren sie zur Naturalwirtschaft zurück. Das ist schlecht. Wenn sie es andererseits überhaupt nicht schaffen, sich etwas zu nehmen, dann verelenden die Familien.“
Um diese interessante Balance zu erkunden, haben sich die Forscher erst einmal von dem Begriff des Klauens gelöst: „Es vollzieht sich ein gegenseitiger Diebstahl … Das Problem besteht darin, dass dies auch eine ganze Reihe positiver Aspekte beinhaltet. Wir versuchen deswegen den Begriff des Diebstahls zu ersetzen durch ‚nichtformelle Einkünfte‘, weil Diebstahl negative ethische Bewertungen erhält. Man kann dies aber kaum ethisch bewerten. Ein Kolchosnik, den ich darauf ansprach, dass die Gebote fordern, ‚Du sollst nicht stehlen‘, antwortete mir: ‚Damals hat es ja auch keine Kolchosen gegeben‘.“
Obwohl man diesen fortdauernden Kampf zwischen APKs und LPCHAs im Westen nicht kennt, gibt es auch hier zwischen Betrieben und Arbeitnehmern ein Ausbalancieren durch „nichtformelle Einkünfte“. Nikulin knüpft zum Begreifen dessen bei Max Weber an: „Weber sagt, dass der Kapitalismus dort beginnt, wo die Trennung der Familie vom Unternehmen anfängt. In Russland sind sie bis heute miteinander verwachsen. Sie bilden einen gemeinsamen Komplex, in dem es einen gigantischen, nichtformellen Fluss des Austauschs von Ressourcen zwischen den Familien und den Betrieben gibt – auch in der Industrie.“
Als der Westen in den Osten eindrang, gab es immer wieder Versuche, diesen informellen Ressourcenfluss zu stoppen. So erinnere ich mich, dass zum Beispiel der PDS-Bürgermeisterkandidat des Prignitz-Dorfes Grabow vor den Märzwahlen 1990 seinen CDU-Herausforderer, den Vorsitzenden der lokalen LPG, dadurch ausbremste, dass er ihn nächtens dabei überraschte, wie er sich mit der Schubkarre an der LPG-Maissilage bediente, um damit seine Privatrinder zu füttern: Daraufhin musste er von seiner Bürgermeister-Kandidatur zurücktreten. Später bekam er noch eine Strafanzeige wegen Betreibens einer nichtformellen, also illegalen Kneipe. Dem ehemaligen Kolchosevorsitzenden war anscheinend die „Balance“ im Sozialismus zur zweiten Natur geworden.
Ähnliches gilt für den Berliner Schriftsteller Falko Henning, der seine ganze Ost-Biografie unter dem Aspekt des Klauens und Betrügens aufdröselte – „ohne alle negativen ethischen Bewertungen“. „Alles nur geklaut“ heißt sein mutiger Vorstoß zu einer vorurteilsfreien sozialistischen Ausbalancierung – auch noch im Spätkapitalismus.
HELMUT HÖGE