: Seele der Seestadt halbiert
In Bremerhaven soll eine Hälfte des Weserdeiches abgetragen und durch eine Stahlwand ersetzt werden – die Bürger sind aufgebracht und sagen: Der Deich ist einer der letzten historischen Orte der Stadt
Aus BremerhavenDorothea Siegle
Als der Deich bricht, steht Manfred Ernst daneben. Es ist Nacht und Sturmflut, in Bremerhaven steigt das Wasser, 1962. Manfred Ernst hat noch drei Tage bis zum Abitur, er macht eine Lernpause, geht an die hohe, wilde Weser. Und sieht, wie das Wasser ein Loch in den Schutzwall reißt. „Plötzlich ruft einer „hepp“ und ich habe einen Sandsack in der Hand“, erzählt Ernst. Und so wird er unfreiwillig der erste in einer Kette von Deichrettern.
Das ist eine von vielen Erinnerungen, die Manfred Ernst an den Weserdeich in Bremerhaven knüpft. Ernst ist Anwalt und Sprecher der Bürgerinitiative „Bremerhaven ja“. Die Initiative wehrt sich dagegen, dass ihr Wall halbiert wird, denn er sei die Seele der Seestadt, sagt Ernst. Die Koalition aus SPD und CDU plant, auf rund 280 Metern Länge die landseitige Hälfte des Deiches abzutragen und durch eine Wand aus Stahlplatten zu ersetzen, eine so genannte Spundwand.
Der Grund: Auf dem freien Gelände hinter dem Deich soll eine Erlebniswelt aus Einkaufszentrum, Hotel und Themenpark entstehen. Unter den Gebäuden soll sich eine riesige Tiefgarage mit rund 1.000 Stellplätzen ausbreiten und bis in den Deich hineinragen, so wollen es die Investoren – daher die Spundwand. Die Sicherheit der Stadt ist durch den halbierten Deich nicht verletzt, wohl aber die Gefühle vieler Bremerhavener. Mehrere hundert kamen Mitte November zusammen, um über die Spundwand zu streiten, die Bürgerinitiative protestiert, die lokale Presse berichtet seit Wochen.
„Der Deich ist einer der letzten Orte in dieser Stadt, der so etwas wie Identität stiftet“, sagt Ernst. Er steht auf der Deichkrone, vor ihm liegt ruhig die Weser, die bleiche Wintersonne hängt tief, Möwen schreien. Hinter Ernst, landeinwärts, viel freie, matschige Fläche, das alten Hafengebiet, hier soll das Erlebniszentrum wachsen, und hier soll die Spundwand in den Deich gerammt werden. Die Wand werde doch für die Bürger kaum zu sehen sein, argumentiert das Bauamt. Der Weserdeich soll in den kommenden Jahren um etwa zwei Meter auf 8,60 Meter erhöht werden – aus Sicherheitsgründen. Im Bereich der neuen Gebäude soll der Deich gleich auf diese Höhe wachsen – die Stahlwand wäre kaum zu sehen. Der Bremerhavener Deich-Flaneur stünde dann sehr hoch und direkt vor dem Einkaufszentrum das am Deich klebt und mit einer Plattform in ihn übergeht.
Vom Schutzwall zum Shoppen, „einen Respektabstand zum Deich wird es nicht geben“, sagt Ernst. Er kritisiert aber nicht nur die Halbierung von Bremerhavens Herzen, sondern auch die Baupläne für das Gebiet insgesamt. Es entstünde ein riesiger Gebäuderiegel, der das Wasser von der Innenstadt abschnitte. „Der Blick ist versperrt.“ „Was sehen Sie da denn?“, fragt hingegen Baustadtrat Volker Holm (CDU). „Sie sehen da zurzeit eine Parkplatzfläche.“
Früher habe sich „keine Sau“ für die Rückseite des Deiches interessiert, „und jetzt wird sie plötzlich zum Heiligtum erklärt“. Holm glaubt: Die Seele des Deiches ist seine Wasserseite. Und die Einschränkung der Aussicht auf der Landseite müsse man eben in Kauf nehmen, wenn man die Bauprojekte möchte. Allein das Einkaufszentrum soll 800.000 Besucher im Jahr anziehen – hofft zumindest die Stadt.
Bremerhaven ist viel Beton, ist grau – der Deich ist grün. „Hier ist man schon als Kind im Kinderwagen gefahren worden“, sagt Ernst. Es herrscht Sonntagsbetrieb, viele Spaziergänger, eine Hundeschule versucht, Welpen Disziplin beizubringen. „Ich schau jeden Tag, ob der Deich noch steht!“, ruft eine Frau Ernst zu. „Schaffen wir das?“ „Das schaffen wir nicht“, sagt Ernst. Letzte Woche hat die Spundwand den Bauausschuss passiert, in dieser Woche wird sie durch den Finanzausschuss gehen, die große Koalition ist sich einig. Ernst hat wenig Hoffnung, dass er wieder den Deich retten wird – wie damals, 1962.