: Kompositorisches Kleingetier
Große Lyonel-Feininger-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle richtet den Focus erstmals umfassend auf das figürliche Werk des Künstlers
aus Hamburg PETRA SCHELLEN
Eigentlich hat er die Farben nicht gebraucht. Hätte sich zeitlebens begnügen können mit dem graphischen Genre, ohne dass er darob überhört worden wäre: Hoch differenziert sind Lyonel Feiningers in der Hamburger Kunsthalle präsentierte „Menschenbilder“ aus den Jahren 1908 bis 1916, von denen ein beträchtlicher Teil als Graphik konzipiert wurde. Selten lag bisher der Fokus auf der figürlichen Facette jenes Kubisten, der die prismatische Zersplitterung von Architektur zur Perfektion trieb. Zweimal – 1988 in der Kunsthalle und 2001 im Ernst Barlach Haus – waren in Hamburg bisher Ausschnitte aus Feiningers figürlichem Werk zu sehen, meist allerdings auf Karikaturen beschränkt, von denen Feininger 20 Jahre lang lebte, bevor er 36-jährig zu malen begann.
Doch der Künstler kam durchaus ohne vorgegebene Geschichten zurecht, suchte in der französischen Literatur der Jahrhundertwende seine Vorlagen, ohne sich sklavisch an sie zu binden. Denn es war die Inszenierung eigener Geschichten, die ihn reizte, meist mit Expressionismus-spezifischem „Massen“-Personal ausgestattet, das er in fast intuitiven Kompositionen auf fiktive Bühnen setzte: Wie verschiedene Töne einer Tonleiter hat er in der Straßenszene in Paris Prostituierte, Mann und Kind auf eine kaum definierte Fläche gesetzt, ohne sich klar für Vorder- oder Hintergrund zu entscheiden.
Wie kompositorisches Kleingetier wuseln im Ölgemälde Grüne Brücke zum Beispiel Arbeiter die Straße hinunter, die sich unter einer städtebaulich völlig irrationalen Brücke duckt. Morbid wie in Alfred Kubins Roman Die andere Seite oder bei Maupassant ist die Atmosphäre. Lichtlos wirkt das Ambiente, den Menschen auf belanglose Puzzle-Teilchen reduzierend. Die „andere Seite“ dieses Ölgemäldes scheint die ein Jahr später geschaffene gleichnamige Radierung zu sein, die das feine atmosphärische Gespinst zeigt, das hinter der schimmelgrün fluoreszierenden Brücke liegt. Nicht nötig hier, Öl gegen Radierung auszuspielen. Überflüssig auch, auf die stärkere Suggestion von Bedrohung anzuspielen, die vom Gemälde ausgeht, symbolisiert durch schwarze Männchen auf der Brücke, die das Geschehen auf der Straße überwachen. Notwendig aber, den qualitativ durchaus vergleichbaren Umgang beider Maltechniken mit Proportionen und kubistischen Stilmitteln zu erwähnen. Denn die Brücke der Radierung Neidlinge kann sich in Plastizität und Intensität ohne weiteres mit dem Gemälde Viadukt messen, wobei die Graphiken zusätzlich Raum lassen für Feiningers Liebe zu allerlei Nebenfiguren. Und die sind immer auch süffisanter Kommentar zu konventioneller Schwerpunktsetzung: Sie stellen es nicht in Frage, das zentrale Thema etwa der Radierung An der Waterkant. Sie lassen dem Protagonisten genügend Raum, aber sie sind eben auch da – wie Plankton, ohne das der Fisch nicht leben kann. Zugleich stehen sie für einen tiefen Zweifel an der Authentizität von Wahrnehmung, sind schon hier surreale Elemente, Chimären, die kommen und gehen.
Flüchtig in verkanteten Bildraum geworfen sind auch die ölgemalten Zeitungsleser, die gar nicht bemerken, was sich am gallegelb gefleckten Himmel zusammenbraut. Sie rennen, retten, flüchten – aus dem Bildraum heraus, aber wohin nur? Sekundenlang nur stolpern sie wie Schemen durchs Bild, kaum fassbar im Raster Zeit. Und schließlich – des Kubismus‘ Blüte – folgt die konsequente Zerlegung des Menschen in die Bühne hinein wie im Gemälde Angler mit blauem Fisch II: Bedeutungslos scheint, was Bühne ist und was Mensch. Perspektive wird zum Abstraktum reduziert und Kategorien der Wahrnehmung verdreht: Raum wird Materie, Materie wird Fläche; relativiert werden Raum und Zeit.
Und doch scheint es, als habe sich der Kubismus – im Gemälde Frau in Mauve etwa – letztlich selbst ausgetrocknet, sei zur perfekten, um ihrer selbst willen gepflegten Studie geworden. Weswegen solche Gemäde in der Ausstellung nicht die interessantesten sind. Sondern, neben den Radierungen, eher jene merkwürdigen, ab 1918 gefertigten Holzschnitte, die – etwa in Trompeter – Welt genauso gekonnt zerlegen wie die Ölgemälde, hierfür aber nur Materie und Antimaterie, Körper und Raum, Schwarz und Weiß brauchen: Das Ambiente ist zu Klumpen zerfallen und atmet tiefen Ernst: Diese Blätter sind gegen Ende des Ersten Weltkriegs entstanden.
Lyonel Feininger: Menschenbilder. Eine unbekannte Welt. Hamburger Kunsthalle. Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; bis 1.2.2004