Abschied von der Lern-Industrie
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LehrerInnen 2003: Die personifizierte Krise eines Berufs. Das Ansehen der Lehrer ist niedrig wie nie. Pädagogen führen ein Leben im Widerspruch: Sie sind verbeamtet, also auf Lebenszeit gesichert. Doch auf ihren Schultern ruht die große Verunsicherung der Gesellschaft: Wie ist mit fahrigen Computerkids Schule zu machen? Keine Berufsgruppe ist ausgebrannter und geht so früh in den Vorruhestand wie jene, deren Job es ist, Optimismus und Lebensfreude an die nächste Generation weiterzugeben. Deutschland, so steht es im neuesten Lehrerbericht der OECD, ist „auf dem Weg in eine alte Zeit“.

Schulen 2003: Sind häufig schon am Geruch erkennbar. Bürokratisch organisierte, aber verwahrlosende Lehranstalten, die aus der alten Industriegesellschaft stammen. Klassenzimmer, an deren Stirnseite wie vor 100 Jahren ein Pult steht – für einen Frontalunterricht, den keiner der Beteiligten mehr gut findet. Geöffnet meist nur bis mittags, dann herrscht gespenstische Ruhe. Lehrer haben keinen eigenen Schreibtisch, keinen Computer, sie bewahren ihre Materialien in einer Pappschachtel am Fuß einer Schulbank auf.

Lernen 2003: In tausenden von Lehrplänen und Curricula akribisch dokumentiert. Jede Schulstunde, die zwischen Klingelzeichen eingezwängt wird, ist voll von Lerneinheiten, auf die weder Lehrer noch Schüler Einfluss haben. Das angebliche „Lernen fürs Leben“ wird fein säuberlich getrennt nach Schulfächern, zu denen bienenfleißige Politiker jeder Couleur täglich neue unsinnige Fantasiefächer hinzuerfinden: Benimm, Ernährung oder Anti-Gewalt.

Lernprinzip 2003: Wissensaneignung ist stets sanktioniert durch Noten und die Drohung des Abstiegs in einer niedrigere Schulform. Es herrscht eine Kultur der Kontrolle. Wer kein Abitur macht, gilt unausgesprochen als Idiot.

Schulaufsicht 2003: Die Herrschaft der Kultusbürokratie und der Schulräte über ihre Anstalten. Lehrer müssen für kleine Einkäufe (Spitzer für 25 Euro) und große Unterrichtsprojekte eine Erlaubnis beantragen. Lehrer werden fast immer von oben eingestellt. Fällt in der Schule ein Lehrer aus, kann es sein, dass wochenlang kein Ersatzpädagoge kommt – weil die Mühlen der Schulämter langsam mahlen.

Schulstruktur 2003: Es gibt mehr als ein Dutzend Schulformen – von der Grundschule bis zum Oberstufenzentrum. Sie tragen teilweise den gleichen Namen (Regelschule), sind aber etwas völlig anderes. Es herrscht das sehr deutsche Prinzip der Auslese: Mit zehn Jahren wird festgelegt, wer später studieren darf (Gymnasium) und wer, mit steigender Wahrscheinlichkeit, arbeitslos wird (Hauptschule). Zehn Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss. Die leistungsfähigsten Bildungsländer haben diese Struktur längst aufgehoben – mit Erfolg. In Deutschland darf darüber nicht gesprochen werden. Die größten Feinde der Schulapartheid sind zugleich ihre glühendsten Verfechter – die Eltern („Mein Kind soll mit diesem Kind nicht lernen“).

Bildungsökonomie 2003: Jährliche Ausgaben 129 Mrd. Euro; Anteil am Bruttoinlandspodukt 5,3 Prozent; Abiturientenquote 30 Prozent; Studierendenquote 25 Prozent; Akademiker 25 Prozent.

Schüler 2003: Noch 12,4 Millionen, ihre Zahl schrumpft. Schüler sind unbekannte Wesen. Wir wissen kaum, wie sie ticken. Vielleicht halten wir sie deshalb lange in Kitas vom Lernen ab und lassen viele erst mit sieben in die Schule. CIF

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LehrerInnen 2020: Das ist die Aufspaltung eines Berufs in die neue Profession der so genannten Lehrperson. Dazu gehört der ökonomisch beschlagene Manager selbstständiger Schulen, der den klassischen Schulrektor ablöst. Es gibt weiter den klassischen Lehrer – aber neu sind der Hilfslehrer und der sozialpädagogische Assistent. Sie sollen zusammen einen völlig neuen Unterricht moderieren: die Wissensaneignung junger Lerner. Zu den Schulen gehören auch Profis aus anderen Berufen, die ohne pädagogische Ausbildung sind, aber besitzen, was Lehrern 2003 am allermeisten fehlte: Autorität.

Schulen 2020: Sind den ganzen Tag geöffnet. Von 6.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Schule findet zwischen halb neun und halb fünf statt. Es gibt eine Kantine. Schulen sind Lernlandschaften mit sehr unterschiedlichen Räumen. Sie sollen Lernen in allen Formen ermöglichen – auf der Schulbühne, in den Werk-, Zeichen- und Ruheräumen, in Computerlabors, Bibliotheken und Gruppenzimmern. Es gibt noch ein, zwei Klassenzimmer – damit die Schüler sehen, wie industrielles Lernen nach Vorschrift bis ins Jahr 2003 organisiert war.

Lernen 2020: Wird fächerübergreifend in Projekten organisiert sein. Schüler suchen sich selbst die Themen. Wichtig ist nicht das Pauken von Wissen. Die Lerner sollen sich Kompetenzen aneignen. Lehrpläne sind abgeschafft. Stattdessen gibt es Lernziele, die eine neue Schulaufsicht (siehe unten) kontrolliert. Jeder Schüler führt ein Logbuch, ein Heft mit individuellem Lernstoff. Hausaufgaben haben nur noch die Eltern – damit sie sehen, was ihr Kind lernt.

Lernprinzip 2020: Schüler erarbeiten sich Kompetenzen für ihr Leben – nicht für Prüfungen. Es gilt das finnische Grundgesetz der Pädagogik: Respekt. Man darf Kinder nicht beschämen. Es herrscht eine Kultur der Anerkennung.

Schulaufsicht 2020 heißt jetzt Evaluationsagentur. Dort arbeiten nicht Schulräte, sondern Schulforscher. Sie sollen die Kompetenzen der Schüler testen (wie bei Pisa). Ziel ist es nicht, schlechte Schüler zu identifizieren. Die Leistungsfähigkeit der Schule wird geprüft. Schlechte Schulen werden, wenn sie sich nicht bessern, geschlossen. Auch die Lehrer machen Tests – um den Förderbedarf ihrer Schüler zu erkennen.

Schulstruktur 2020: Es gibt eine Schule für alle bis zur achten Klasse, bald wird bis zur zehnten gemeinsam unterrichtet. Das Gymnasium schließt sich als Oberstufe an. Abitur machen inzwischen 45 Prozent eines Altersjahrgangs, die Zahl soll weiter steigen. Durchgesetzt hat das die Wirtschaft, vor allem die Mittelständler in den Boom-Regionen des Südens. Sie setzten Anfang des Jahrhunderts die Schulstruktur auf die Tagesordnung – weil die dreigliedrige Schule nicht mehr genügend qualifizierte junge Leute für Industrie und Handwerk herangebildet hatte. Sie schrieben: „Mit einer guten Position in der zweiten Liga kann sich unser hoch entwickeltes, vom Qualitätsstandard seiner Menschen abhängiges Land nicht zufrieden geben.“

Bildungsökonomie 2020: Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist bei 7,3 Prozent fixiert. Für den Anteil der Abiturienten gibt es keine Quote – jeder muss topqualifizert sein, denn die Zahl der …

Schüler 2020 schrumpft weiter. Es sind nur noch 10 Millionen. Die Zahl der Rentner steigt. Auch die Kitas gehören zum Bildungssystem. Die Schule ist zu dem geworden, was sie 2003 schon hätte sein müssen: ein Zukunftslabor. CIF