: Die Soziologie des Siechtums
Das Institut für Soziologie an der FU schrumpft seit Jahren. Die Mitarbeiter beklagen gebrochene Versprechen. Ob die jetzigen Erstsemester noch zu Ende studieren können, ist unsicher. Die Sparvorgaben des rot-roten Senats könnten das Ende bedeuten
von ANNA LEHMANN
Es ist eng bei den Soziologen. Jonas Radl teilt sich einen Raum mit zwei weiteren studentischen Hilfskräften. Er sitzt auf dem Schreibtisch neben dem Telefon. Dieses ist fast immer besetzt, weil das Institut seit zwei Wochen von den Studenten okkupiert ist. Die zwei Etagen, die sie vor gut zwei Jahren widerwillig bezogen hatten, wollen die Soziologen nun auf keinen Fall preisgeben.
Die Soziologie wird von den Kürzungen an der Freien Universität stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Bis 2009 sollen fünf von neun Professorenstellen wegfallen. Der Diplom-Studiengang wird nur noch als Masterstudium weitergeführt. Schon zum kommenden Sommersemester werden keine neuen Studenten mehr aufgenommen. Am Ende bliebe von der ersten und ehemals mächtigen soziologischen Lehr- und Forschungsstätte der alten Bundesrepublik nur noch ein Zwergenfach übrig, für das wohl auch eine Etage ausreichen würde.
Schon jetzt ist das Institut angeschlagen. Vier Professoren betreuen die rund 900 Diplomer und 1.600 Nebenfächler. Als Jonas sich vor viereinhalb Jahren einschrieb, gab es noch neun Professoren. Einer starb 1999, vier sind in kurzen Abständen emeritiert. Die Stellen blieben frei. 2001 musste das Institut seinen Sitz in der Babelsberger Straße räumen. Dort in der legendären „Babelsburg“ lehrte Otto Stammer und studierte Rudi Dutschke. Man richtete sich Tür an Tür mit dem Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, kurz Osi, und dem Osteuropa-Institut in Dahlem ein.
Die Tür zu Professor Ganßmanns Büro steht offen. Heiner Ganßmann betreut neun Diplomarbeiten. Als er 1980 am Institut anfing, seien zwei üblich gewesen. Da leidet die Wissenschaft. Es komme vor, bekennt Ganßmann, dass er auf Tagungen einen roten Kopf bekomme, weil er die neueste Fachliteratur noch nicht gelesen habe. „Ich bin nicht zu faul zum Lesen, ich habe nur zu wenig Zeit.“
Auch Martin Kohli, der über Altern und Lebenslauf forscht, klagt über unzumutbare Bedingungen. „Wir haben die Überlastungen jahrelang in Kauf genommen, im Vertrauen darauf, dass die vier Stellen endlich neu besetzt werden. Und jetzt hat das Präsidium seine Zusage gebrochen.“
Noch im Juni sah es so aus, als würden Kohli und Kollegen Verstärkung erhalten. Vier Besetzungsvorschläge waren eiligst erarbeitet worden. Doch der Fachbereichsrat, in dem die Osi-Professoren, die Mehrheit haben, ließ sich mit der Freigabe Zeit. Man wollte die Soziologie nicht voranpreschen lassen. Im September wurden die Vorschläge schließlich weitergegeben und kurz darauf, als das Ausmaß der Kürzungen bekannt wurde, für nichtig erklärt. „Wir standen am Scheideweg, den Studiengang zu konsolidieren oder zu schließen“, sagt Kohli. Jetzt sei Letzteres eingetreten. Vorsichtig äußert er sich über die „nicht sehr unterstützende Rolle“ des Osi. Deutlicher wird Heiner Ganßmann: „Die Politikwissenschaft wurde geschont. Mit der Schließung der Soziologie kann man schnell viel Geld einsparen.“
„Nicht ganz abwegig“ findet Gerhart Göhler von der Politikwissenschaft diese Vermutung. Aber er sieht keine Bevorzugung seines Instituts. „Wir werden beide abgebaut“, stellt er fest. Auch am Osi lehrten einst 45 Professoren, jetzt sind es noch 21 und nach den Plänen des Präsidiums sollen es 14 werden. „Man stelle sich vor, in einem Fachbereich sollen Stellen abgebaut werden, dann kämpft doch jeder aus Eigeninteresse ums Überleben.“ Das Präsidium gebe das Problem der Kürzungen nach unten weiter, indem es den Instituten freistelle, sich doch untereinander zu einigen. „Wir sind in gewisser Hinsicht die Sündenböcke.“ Es sei auf der einen Seite nicht hinnehmbar, dass die Soziologie sterbe, aber andererseits müsse das eigene Niveau gehalten werden. Der Ton zwischen den Nachbarn habe sich seitdem verschlechtert. Das exemplarische Siechtum der Soziologie vor Augen, kämpft das Osi ums eigene Terrain.
„Das sei schon eine traurige Lage“, meint auch der Vizepräsident der FU Werner Väth. Aber die Soziologie hätte eben Pech. „Sie haben nur noch vier Leute und es müssten mindestens vier Stellen neu besetzt werden. Diese Investition ist zur Zeit unmöglich.“ Und meint tröstend, dass das Fach in Miniaturform ja erhalten bleibe. Vielleicht kommen sogar zwei neue Professoren, die sicherstellten, dass die 78 Studenten, die sich als vorläufig letzte im Herbst immatrikuliert haben, ihr Studium am Institut beenden können. Heiner Ganßmann, über den Strukturplan gebeugt, bezweifelt das. Sein Finger fährt über die Tabelle: Entwicklung der Professurenzahl 2005. Da steht eine 4: „Hier wird Kohli emeritiert“. Er verharrt bei 2009: „Hier gehe ich“, und erreicht das Ende der Zeile: „2012 geht Professor Kramer“. Darunter steht eine Null. Es wird sehr eng für die Soziologie.