David Grossman liest im Literaturhaus aus seinem neuen Novellenband
: Unter die Haut gekrochen

Angesichts der allumfassenden Gegenwart von Gewalt und Angst, so der israelische Autor David Grossman kürzlich in einem Interview, bestehe er darauf, über das zu schreiben, was „in unserer israelischen Wirklichkeit nur am Rande vorkommt. (...) über das Geheimnis des Lebens, über die vielen Feinheiten der Gefühle.“ Das ist bei ihm keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern der Versuch, etwas aus ihr zu retten, was zunehmend verloren geht; ein Anschreiben gegen die Deformationen der Persönlichkeit.

Grossman, der jetzt im Literaturhaus liest, hat sich oft politisch geäußert, sich für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt. In seinem neuen Buch Das Gedächtnis der Haut sucht er die inneren Welten seiner Figuren auf, kriecht ihnen im Wortsinne unter die Haut. Und behauptet die Bedeutsamkeit dessen, was unsichtbar bleibt – die Macht der Erinnerungen, die lange Spur eines Schmerzes.

Das Buch vereint zwei Novellen. In der titelgebenden begegnen sich Mutter und Tochter nach Jahren der Distanz am Krankenbett der Mutter. Dass sie bald sterben wird, wissen beide. Die Tochter Rotem, Mitte 30 und Schriftstellerin, hat über die Begegnung ihrer Mutter Nilli mit einem 15-Jährigen geschrieben. Eine reale Begebenheit und eine schmerzhafte Erinnerung, weil die Tochter, damals so alt wie der Junge, spürte, dass die Mutter ihm etwas geben konnte, das sie ihr stets vorenthielt.

An Krankenbett liest die Tochter der Mutter vor: Wie die Mutter diesen Jungen Yoga lehrte. Wie sie sich über die Körper einander näherten. Sie erzählt von der Trauer Nillis, als der Junge verschwand, und davon, wie diese Trauer die letzte Verbindung zur Tochter kappte.

Dabei wechseln sich zwei Erzählebenen ab: Die „fiktive“ Erzählung der Tochter und die Szenen am Bett. Grossman erzählt so eine Geschichte in der Geschichte, vervielfältigt den Blick auf beide Figuren. Und löst formal ein, was er thematisch umkreist: die Grenze zwischen Realität und Erinnerung, innerer und äußerer Welt: „Ich muss es wissen, Nilli, muss es endlich wissen, ob etwas von dem, was ich dir seit zwei Stunden vortrage, irgendetwas mit der Realität zu tun hat. Aber es ist die Realität, sagt sie langsam, unerwartet sanft. (...) Es ist die Realität, die ich hören will.“

Auf diese Frage wird die Tochter keine eindeutigere Antwort bekommen, aber Annäherungen wird es geben; einfühlsam schildert Grossman Momente gegenseitigen Verständnisses, oft über körperliche Berührungen. Der Körper ist ein weiteres Leitmotiv des Autors. Seine Empfindsamkeit, seine Genussfähigkeit, seine Art der Erinnerung: Die Momente größter Erfüllung und maßloser Erschütterung schreiben sich dem Körper ein, bleiben auf der Haut „archiviert“.

Beide Leitmotive durchziehen auch die Novelle Raserei, in der Schaul in brennenden Phantasien über die Untreue seiner Frau fast vergeht und diese doch sein Lebenselixier sind; eine Aufklärung darf keinesfalls erfolgen. Mit seiner verstörten Leidenschaft setzt er in seiner Schwägerin Esti eine fast vergessene Sehnsucht wieder frei – und Grossman macht erneut deutlich, dass sein Vertrauen dem Gedächtnis der Haut gilt.

Carola Ebeling

David Grossman: „Das Gedächtnis der Haut“. München/Wien 2004. 315 S., 21,50 Euro. Lesung: Do, 25.11., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38