Die kleine Hand in seiner großen Hose

Ein Schmuddelstreifen, der als Tourismuswerbung in Bonner Bahnhofskinos laufen sollte: Zwei Minuten in der Berliner S-Bahn können eine Ewigkeit dauern – selbst wenn die Authentizität der Darbietung Onanie fördernd wirkt

Grenzen aufzeigen? Wer weiß schon genau, wo Jugendliche ihrer Grenzen haben

„Zurückbleiben bitte“, ertönt es vom Bahnsteig Jannowitzbrücke, die Tür schließt sich, und ich lasse mich auf eine Längsbank in der Nähe der Tür fallen, von wo aus mein Blick eine Viererkonstellation schräg gegenüber streift: zwei Mädchen, zwei Jungs – alle so zwischen fünfzehn und siebzehn. Das eine Pärchen kann ich von meinem Platz aus kaum sehen, doch der zweite Typ grinst mich frech und herausfordernd an. „Nicht nur anfassen“, kommandiert er zugleich das ihm beigeordnete Mädchen.

Seine Hose ist offen, und ihre Hand in seiner Hose. Die Hand bewegt sich weisungsgemäß. Ich soll wohl wegschauen oder mich woanders hinsetzen. Mach ich aber nicht. Ich sitz jetzt hier. Die werden sich schon an mich gewöhnen. Oder noch besser, sie hören einfach auf – Jugendliche wollen ja letztendlich immer nur ihre Grenzen ausloten. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es dann angeblich, ihnen eben diese Grenzen aufzuzeigen: Nur, was weiß denn ich, wo diese Jugendlichen ihre Grenzen haben? Im Moment habe ich eher das Gefühl, sie besitzen überhaupt keine. Wie soll ich sie ihnen denn dann zeigen?

Alle vier lachen jetzt. Am wenigsten lacht die Kleine, die die ganze Dreckarbeit hat. Sie blickt angestrengt konzentriert und rubbelt mit Feuereifer, so weit ich das aus dem Augenwinkel erkennen kann, denn so richtig möchte ich jetzt doch nicht mehr hingucken. Die Lauser wollen mich kompromittieren, und um ein Haar gelingt ihnen das sogar: Mich zu kompromittieren! Respekt! Da muss man normalerweise schon verdammt früh aufstehen, um in diese klugen und erfahrenen Augen, die im Grunde bereits alles geschaut haben, so etwas wie milde Irritation zu zaubern. Es ist sehr früh am Morgen, und sie sind dem Anschein nach noch nicht mal betrunken oder stehen unter Drogen. Vielleicht sind sie als kleine Kinder in das Fass mit den Drogen gefallen und brauchen jetzt keine mehr. Der Junge schnauft, die S-Bahn heult.

Die S-Bahn ist immer auch die Visitenkarte einer Stadt. Kein Wunder, dass eine Fahrt mit ihr ganz oben auf dem Wunschzettel der Touristen nach echtem Berlinerleben steht. „Dit isch Berlin“, stelle ich mir den unbeholfen imitierten Soziolekt vor, der diese Szene aus dem Off kommentiert: In einem Schmuddelstreifen, der unter dem Deckmäntelchen der Tourismuswerbung im streng riechenden Bonner Bahnhofskino läuft, in dem ausrangierte Exbundesbeamte ihre trüben Tage totschlagen, die einander gleichen wie ein Batteriehaltungsei dem andern.

Ab und zu onaniert einer der Stoppelbärtigen, angeregt von der offenbaren Authentizität des Gezeigten, oder eine leere Flasche Chantré kullert langsam die Schräge unter den Sitzen entlang nach vorn, bis sie in einem Wust gebrauchter Kleenex hängen bleibt. „Berlin isch urscht schau“, versucht der Sprecher am Ende zu osteln, ein vormals hoffnungsvoller Schauspieler, der nach einem Motorbootunfall und zwei erfolglosen Kehlkopfoperationen bei „Discount-Synchron“ sein verschimmeltes Gnadenbrot kaut.

Ostbahnhof – ich bin am Ziel und steige aus. Kein schöner Film – das waren wirklich äußerst lange zwei Minuten! Dasselbe scheint sich auch der junge Mann zu denken, wenn ich den unterdrückten Aufschrei in meinem Rücken korrekt interpretiere. „Zurückbleiben“, schnarrt die Stimme des Zugabfertigers, aber dazu ist es wohl zu spät.

ULI HANNEMANN