: Digitale Grabenkämpfe
In reichen Ländern ist Mediennutzung Normalität, in wenig entwickelten die Ausnahme. Die Kluft zwischen Nord und Süd wächst – das zeigt der UN-Gipfel zur Infogesellschaft
Noch bevor er am Mittwoch feierlich eröffnet wird, gilt der „Weltgipfel über die Informationsgesellschaft“ in Genf vielen bereits als gescheitert. Dies stimmt – und stimmt doch nicht. Nach zähen Verhandlungen brachte das letzte Vorbereitungstreffen Formelkompromisse, sodass man doch noch eine für alle tragbare „Prinzipienerklärung“ und einen „Aktionsplan“ präsentieren wird. Dennoch, die Wirkung dieser Texte dürfte gering bleiben. Die Fronten sind verhärtet. Gerade das ist lehrreich. Sie bringen die politischen Konflikte und materiellen Interessen zum Vorschein, die sich sonst hinter den Versprechen der „Informationsgesellschaft“ verstecken.
Dabei schien das zentrale Anliegen klar: die Digital Divide zu überwinden, jenen „digitalen Graben“ zwischen Nord und Süd, dessen Abgründe noch in den trockensten Statistiken über Nutzerzahlen und Web-Inhalte erschrecken. Dabei strebt die Schere zwischen den information-rich und den information- poor weltweit derzeit ebenso auseinander wie die zwischen Reich und Arm. Selbst die Weltbank musste unlängst konstatieren, dass zwar eine wachsende Zahl von Menschen in der Dritten Welt E-Mail und Internet nutzt, dass der technologische Abstand zwischen den OECD-Staaten und den Entwicklungsländern aber noch schneller wachse.
Überraschend ist das nicht. Es ist ja gerade die Triebkraft für die immer neuen technologischen Innovationen, durch diese Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Unternehmen, Wirtschaftsstandorten oder Nationen zu erzielen. Auch für technologische Modernität gilt, dass in einer Marktwirtschaft ihr Wert just darin besteht, dass sie eine knappe Ressource ist – eben eine, die „die anderen“ nicht haben. Der Diskurs, der den technologischen Anschluss der Dritten Welt proklamiert, ist so letztlich Bestandteil eines Fortschrittsmodells, in dem dieser Anschluss nie für alle gleichzeitig und in gleichem Maße vollzogen werden kann.
Was in Genf als „digitale Kluft“ beschworen wird, ist letztlich nur ein Teil und ein Symptom des viel tiefer liegenden Gefälles zwischen Arm und Reich. Und genau deshalb fällt es den in Genf versammelten Staaten auch so schwer, sich auf mehr als auf diplomatische Floskeln zu einigen. Die Forderung nach einem maßgeblich von den reichen Ländern zu finanzierenden Solidaritätsfonds zur Internet-Förderung im Süden ist ausgesprochen moderat; sie verlangt eher karitative Gaben als wirkliche Umverteilung. Dennoch ist die Neigung der Industrieländer, ihren Reden auch einen entsprechenden Griff in das Portemonnaie folgen zu lassen, derzeit denkbar gering.
Dass Kanzler Schröder seine Teilnahme an dem Genfer Gipfel abgesagt hat, zeigt noch deutlicher, wie wenig werbewirksam ihm das zu erwartende diplomatische Gerangel schien. Noch auffälliger aber ist, dass die Bundesregierung die Zuständigkeit für den Weltinformationsgipfel nicht dem Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit übergab, das der natürliche Ort für Nord-Süd-Fragen wäre, sondern dem Wirtschaftsministerium. Dessen zentrales Anliegen ist laut Selbstbeschreibung „der wirtschaftliche Wohlstand in Deutschland“.
Nicht nur beim Geld, auch bei der Frage, wer das Internet regiert, sind die Fronten verhärtet. Denn das Internet regiert sich keinesfalls selbst, wie oft gerne glauben gemacht wird. Es gibt selbstverständlich eine oberste Instanz, die darüber entscheidet, ob etwa Palästina oder Tibet eine eigene Länder-Domain führen dürfen (Palästina darf, Tibet nicht) oder welche technologischen Standards verwendet werden (und welche nicht). Diese Instanz ist die direkt von der US-Regierung gegründete Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann), die weder der UNO noch sonst einer Institution der internationalen Staatengemeinschaft Rechenschaft schuldig ist. Wo nun die UNO zum Genfer Gipfel geladen hat, erscheint die Forderung nur allzu plausibel, auch die Internet-Verwaltung unter das Dach der Vereinten Nationen zu stellen. Doch nicht nur die USA, auch die EU will davon nichts wissen. Der Status quo garantiert eine Ausrichtung im Sinne der westlichen Industrieländer, vom Meinungspluralismus über marktwirtschaftliche Strukturen bis zur Wahrung militärischer Interessen; dies wiegt für die Regierungen zwischen Berlin und Washington allemal schwerer als der Anspruch, bei dem „Weltgut Internet“ eine zumindest halbwegs an globaler Demokratie orientierte Regulierungsform zu finden. Zumal auch die zivilgesellschaftlichen Akteure des Südens genügend Gründe zur Skepsis haben, allzu viel Kontrolle des Internets ihren Regierungen zu übertragen.
Die Propheten der „Informationsrevolution“ haben Bestseller um Bestseller darüber geschrieben, dass in der Welt durch das Internet alles anders werden würde. Bei dem Genfer Gipfel kann man nun staunend erleben, wie sehr der Streit um die „Weltinformationsgesellschaft“ an die Grabenkämpfe der 70er- und 80er-Jahre erinnert, als die Länder der Dritten Welt eine „neue Weltinformationsordnung“ verlangten. Der Norden weigerte sich damals erfolgreich, seine Dominanz über die globalen Medien substanziell infrage stellen zu lassen – und er konnte darauf verweisen, dass viele Regierungen des Südens zwar die Befreiung aus postkolonialen Abhängigkeiten forderten, in der Praxis aber vor allem daran interessiert waren, im Namen „nationaler Mediensouveränität“ oppositionelle Stimmen in ihren jeweiligen Gesellschaften kurz zu halten. Globale Verteilungsgerechtigkeit und Abbau der Nord-Süd-Hierarchien versus Medienpluralismus und Marktliberalismus – die Konfliktkonstellation der 70er-Jahre erscheint in Genf in Neuauflage. Dabei übernimmt China die Rolle des politischen Herausforderers, der zwar mit Macht die neuen Technologien fördert, aber gleichzeitig das Recht beansprucht, auch das Internet zu zensieren.
So mögen die Ergebnisse des Gipfels dürftig sein, aber letztlich lässt dies die beteiligten Regierungen nicht nur unzufrieden zurück: Die Länder des Südens können darauf verweisen, dass es der reiche Norden war, der beim eigentlichen Anliegen des Gipfels, der Überwindung des digitalen Grabens, gemauert habe; und die Industrieländer können für sich ins Feld führen, Meinungsfreiheit und Menschenrechte vor den autoritären Regierungen diverser Couleur gerettet zu haben – und en passant haben sie ihre Finanzminister vor größeren Geldzusagen bewahrt. Patt in Genf also.
Die in Sachen Internet und Kommunikationsrechte engagierten Akteure der Zivilgesellschaft haben jedoch an solcherlei Polit-Poker weitgehend das Interesse verloren. Stattdessen organisieren sie in Genf mit einer Fülle eigener Veranstaltungen eine Art Parallelgipfel. Dieser scheint in vielem den Herausforderungen der neuen Technologien und der Dringlichkeit der globalen Probleme weitaus angemessener als das Ringen um Kompromiss-Paragrafen vor und hinter den Türen des offiziellen Gipfels. BERT HOFFMANN